: Es wird nicht mehr gebellt
Die gewalttätigen Unruhen in Bagdads Armenviertel Sadr City könnten sich zu einem Aufstand auswachsen. Noch halten andere Schiitenführer still
aus Kairo Karim El-Gawhary
Nicht nur verbal ist es nun zum offenen Schlagabtausch zwischen der US-Besatzungsbehörde und dem radikalen Schiitenführer Muktada al-Sadr gekommen. US-Verwalter Paul Bremer erklärte den Kleriker am Montag offiziell zum „Gesetzlosen“. Al-Sadr versuche, seine anstelle der legitimen Autorität durchzusetzen, begründete Bremer und fügte hinzu: „Wir werden das keinesfalls tolerieren.“ Der Angesprochene hatte zwar zuvor seine Anhänger aufgerufen, die Demonstrationen zu beenden, forderte aber von ihnen in einer Art Dschihad-Aufruf zugleich, „Terror in die Herzen der Feinde zu tragen“. Die Schiiten sollten die Misshandlungen nicht mehr still dulden.
Begleitet wurde der Krieg der Worte vom Krieg auf der Straße, der gestern über 60 Menschen das Leben kostete, darunter über 52 Iraker, acht US-Soldaten und ein salvadorianischer Soldat. Neben Bagdad war vor allem der Süden des Landes Schauplatz gewalttätiger Auseinandersetzungen zwischen den Besatzungssoldaten und den Anhängern al-Sadrs. Die heftigsten Gefechte lieferten sich beide Seiten in Sadr City, einem schiitischen Armenviertel im Osten der irakischen Hauptstadt. In der Nacht eroberten US-Einheiten fünf Polizeistationen und weitere Verwaltungsgebäude zurück, die am Sonntag von Sadristen übernommen und geplündert worden waren. Zahlreiche Einschusslöcher und dutzende platt gewalzter und ausgebrannter Privatautos zeugten am Morgen von den Kämpfen.
Erstmals seit dem Krieg hat sich die US-Armee nun für einen längeren Aufenthalt in dem explosiven schiitischen Armenviertel eingerichtet. Bisher hatten die Amerikaner es aus Angst vor einer direkten Konfrontation mit den dort starken Sadristen gemieden. Sie bewachten die Zufahrtsstraßen und schickten nur selten eine fahrende Patrouille auf Fahrt durch die Hauptstraßen. Diese indirekte Besatzung wurde gestern gegen mehr Präsenz ausgetauscht. Vor jeder Polizeistation stehen jetzt mindestens sechs Panzer. Im Viertel herrschte am Montag eine angespannte Waffenruhe. Die jugendlichen Anhänger al-Sadrs und die US-Soldaten beäugten sich gegenseitig misstrauisch. „Alle warten ab, was als nächstes passiert. Es kann alles passieren“, fasste einer der Jugendlichen die Lage zusammen.
In Schaula, einem anderen Schiitenviertel im Westen der Hauptstadt kam es dagegen erneut zu Feuergefechten. Die Amerikaner setzten dabei sogar Kampfhubschrauber ein und beschossen Mitglieder der Sadr-Miliz. Die Kämpfe waren eskaliert, nachdem ein Konvoi von fünf Lastwagen mit US-Soldaten und irakischen Sicherheitskräften in den Stadtteil einfahren wollte, aber von Sadr-Anhängern angegriffen wurde. Im anschließenden Chaos kam es laut Augenzeugen sogar zu einem Feuergefecht zwischen US-Armee und der von den Besatzern selbst aufgebauten irakischen Zivilverteidigung. Die Kämpfe waren am Sonntag ausgebrochen, nachdem die US-Besatzungsbehörden Mustafa al-Jakubi, einen der politischen Berater Muktada al-Sadrs, festgenommen hatten. Zuvor waren die Büros von al-Haussa, der Wochenzeitung der Sadristen, „wegen Aufhetzung gegen die Koalitionstruppen geschlossen worden.
Unklar ist, warum die Besatzungsbehörden ausgerechnet jetzt beschlossen haben, gegen al-Sadr vorzugehen. In seinen Predigten und seiner Zeitung hetzt er bereits seit Monaten gegen die Besatzungstruppen. Möglicherweise hatten sie gehofft, damit seinen Einfluss einzudämmen. Bereits voriges Jahr hatte die US-Besatzungsbehörde mit der Verhaftung al-Sadrs gedroht und einige enge Mitarbeiter festgenommen. Daraufhin hatte al-Sadr seinen Ton für mehrere Wochen hörbar gemäßigt. Möglicherweise hatten die Besatzer auch diesmal mit einem ähnlichen Effekt gerechnet.
Mit der direkten Konfrontation haben sie nun eine weitere gefährliche Front eröffnet. Bisher hat sich die irakische Guerilla fast ausschließlich aus Sunniten rekrutiert. Die Schiiten, die die Bevölkerungsmehrheit stellen und den US-Einmarsch anfänglich begrüßt hatten, geben sich zwar inzwischen zunehmend kritisch gegenüber der Besatzung, haben sich aber vor allem aufgrund ihrer besonnenen Führung bisher nicht dem militärischen Widerstand angeschlossen. Und selbst Muktada al-Sadr hat bisher mehr gebellt als gebissen. Die größte Gefahr besteht nun darin, dass sich Sadristen und Besatzer in den letzten Tagen in eine Sackgasse begeben haben, aus der sie nicht mehr herauskommen. Für Muktada al-Sadr wäre es ein herber Gesichtsverlust, gäbe er jetzt nach. Sein ganzes Image und seine Popularität, vor allem bei den jüngeren Bewohnern der schiitischen Armenviertel, bezieht er aus seinen zumindest verbalradikalen Positionen gegenüber der Besatzung (siehe Porträt unten). Und nachdem er nun für gesetzlos erklärt worden ist, dürfte es den Amerikanern schwer fallen, den jungen Schiitenführer einfach weiter agieren zu lassen.
Die große Unbekannte in dem Konflikt ist nun, wie sich andere Schiitenführer verhalten werden. Bisher haben sich sowohl Großajatollah al-Sistani als auch Abdel Asis al-Hakim, der Chef des schiitischen obersten Rats der islamischen Revolution (Sciri) auffallend zurückgehalten, ihren internen Widersacher zu unterstützen. Wenn die Konfrontation zwischen al-Sadr und den Amerikanern allerdings vollkommen außer Kontrolle gerät, könnten sie von ihrer eigenen Basis gezwungen werden, einen militanteren Standpunkt gegenüber der Besatzung einzunehmen. Das wäre der ultimative Albtraum der US-geführten Besatzungstruppen. Ein breiter Aufstand der schiitischen Bevölkerungsmehrheit würde die bisherigen militärischen Probleme im lokal begrenzten sunnitischen Dreieck wie ein Kinderspiel aussehen lassen.