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Archiv-Artikel

Der Parteichef lässt reden

Gerhard Schröder schickt zwei alte Männer aufs Podium, um die Partei zu überzeugen – ein weiterer Beweis dafür, wie fragil seine Macht derzeit ist

„Eure Argumente waren schon Ende der 70er-Jahre überholt“, sagt Eppler Richtung Agenda-Kritiker

aus Berlin JENS KÖNIG

Erhard Eppler ist nicht von dieser Welt. Jedenfalls nicht von dieser schnellebigen Welt der Politik, die ihre Parteitage neuerdings in sechs Stunden in irgendwelchen Nobelhotels möglichst geräuschlos wegorganisiert. Die SPD tut sich diese zweifelhafte Vergnügen an diesem Sonntag in einem großen, stickigen Saal des Estrel-Hotels in Berlin an. Eppler sitzt dort in der ersten Reihe. Als er vom Arbeitspräsidium des Parteitags um seinen Redebeitrag in der Debatte um den Leitantrag gebeten wird, läuft Eppler geradezu aufreizend langsam auf die Bühne, so dass man schon fürchtet, Phoenix überzieht bei der Live-Übertragung gleich seine Sendezeit.

Eppler tut das natürlich nicht mit Absicht. Er kann nicht schneller. Er ist 76 Jahre alt. Eppler hat lange weiße Haare und einen weißen Bart. Er trägt ein kurzärmeliges grünes Hemd. Wenn er redet, lässt er zwischen den Sätzen lange Pausen, die Parteimanager nur nervös machen, weil sie nicht wissen, wie sie zu füllen sind. Aber gerade die Tatsache, dass Eppler so wohltuend aus der Zeit gefallen ist, gibt seinen Worten an diesem Sonntag Mittag etwas Beschwörendes. Dieser kleine große alte Mann der SPD, der letzte wirkliche Theoretiker der Partei, hält die Rede, die Gerhard Schröder gern gehalten hätte.

Eppler ist auf Schröders persönlichen Wunsch aus seinem Garten in Schwäbisch Hall nach Berlin gekommen, um das Reformprogramm des Kanzlers zu verteidigen. Aber er tut das auf eine Weise, die der Agenda 2010 eine fast schon historische Perspektive gibt. Dabei räumt Eppler sogar ein, dass die Agenda nicht der große Wurf einer in sich schlüssigen, nationalstaatlich orientierten Alternative zum marktradikalen Neoliberalismus ist. Weil es diese Alternative in den Grenzen der Bundesrepublik auch gar nicht gibt, wie er hinzufügt. Das ist auch Epplers zentraler Vorwurf an die Kritiker der Agenda. „Eure Argumente waren nicht nur schon Ende der 70er-Jahre überholt“, sagt er, „eure Diskussion findet darüber hinaus in einer leer geräumten Welt statt.“ In der Welt der Schreiners, Pronolds und Nahles gebe es keine Opposition im Bundestag, keinen Bundesrat, keine EU-Kommission, keinen EU-Stabilitätspakt und keine Bush-Regierung. Da gebe es nur den Kanzler und seine Kritiker, die um soziale Gerechtigkeit streiten. „Surrealistisch“ sei das, sagt Eppler, aber auch „selbstzerstörerisch“. Die anschließenden Worte „Hört endlich damit auf!“, flüstert der alte Mann fast schon. Das macht ihre Wirkung nur noch größer.

Eppler spricht über die großen Linien, nicht über Details. Er spricht über die „neokonservative Konterrevolution“ der Bushs, Rumsfelds und Wolfowitzens und über die „Marktradikalität“ der Neoliberalen. Und er stilisiert Gerhard Schröder geradezu zu einer Art Bollwerk gegen diese Konterrevolution, zu einem europäischen Hoffnungsträger, zu einem Sinnbild für ein eigenständiges Europa und eine Gesellschaftsordnung, in der das Erbe der Arbeiterbewegung gut aufgehoben sei. „Die Botschaft dieses Parteitages kann nicht heißen“, holt Eppler zum letzten Mal aus, „dass wir Gerhard Schröder unfehlbar sprechen. Aber wir müssen sagen: Dieser Kanzler ist unser Kanzler und bleibt unser Kanzler.“ Die Delegierten springen auf, klatschen, jubeln. Es ist der emotionale Höhepunkt des Parteitags. Eine halbe Stunde zuvor, nach der Rede des Parteivorsitzenden, war nicht halb so viel Rummel.

Aber das stört Gerhard Schröder nicht. Er hat Eppler schließlich selbst um diese Rede gebeten. Wie auch den früheren SPD-Vorsitzenden Hans-Jochen Vogel – so eine Art Gegenteil von Eppler. Er würde nie kurzärmelige grüne Hemden tragen. Der „Oberlehrer“, wie Vogel sich selbst noch einmal nennt, trägt einen dunklen Anzug, hellblaues Hemd, roten Schlips. Der 77-Jährige hält eine Elder-Statesman-Rede, weniger visionär, aber ebenso leidenschaftlich wie Eppler. Auch er zieht die großen Linien. Vogel kritisiert die „Selbstbezogenheit“ der innerparteilichen Debatte und erinnert die Genossen noch einmal an die kleiner gewordene Welt. „85 Prozent der Menschen wären todglücklich, wenn sie über unsere Probleme diskutieren könnten.“ Auch Vogel bekommt mehr Beifall als Schröder.

Hat sich hier der amtierende Parteivorsitzende die Autorität zweier ehemaliger Parteigrößen geborgt, um den „Mentalitätswechsel“ in der SPD, wie Schröder das nennt, auf diesem Sonderparteitag durchzusetzen? Das hat er, und das ist ein weiterer Beweis dafür, wie fragil die Macht des SPD-Chefs in seiner eigenen Partei derzeit ist. Aber noch auffälliger als dieser Fakt allein war, wie aufmerksam Schröder Eppler und Vogel zugehört hat, ernsthaft interessiert an ihren Worten, offen für ihre Argumente, seinen Oberkörper den beiden Rednern zugewandt. Das fiel deswegen besonders auf, weil es fast die einzigen Momente waren, in denen Schröder so wirkte, als sei er an diesem für ihn und seine Partei so wichtigen Tag ganz bei der Sache. Ansonsten wirkte er seltsam kraftlos, fast schon abwesend, als habe er keine Lust mehr, mit seiner Partei noch länger zu kämpfen. Sie soll ihm einfach nur noch folgen. Während der Generaldebatte ging sein Blick nicht nur einmal minutenlang ins Leere.

Seinen eigenen Auftritt absolvierte Schröder als Pflichtaufgabe. Seine Rede war eine Mischung aus seinen Standardvorträgen der letzten Wochen und seiner guten Rede zum 140. Parteigeburtstag. Sich den Realitäten stellen, Mut zur Wahrheit, Mut zur Veränderung, die sozialen Systeme reformieren, um sie für die Zukunft und die künftigen Generationen zu erhalten – das war das argumentatorische Grundgerüst. Emotional ausgepolstert hat Schröder es nicht mehr. Angesichts der unentschiedenen Stimmung im Saal fühlte er sich allerdings genötigt, in der Antragsdebatte am Nachmittag noch einmal ans Rednerpult zu treten, und wiederholte seine indirekte Rücktrittsdrohung der letzten Wochen. Das reichte an diesem Tag, um die Partei hinter sich zu bringen. Es reichte nicht, um sie zu begeistern.