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Archiv-Artikel

„Radikale ideologische Qualität“

Von „echt deutschem Sinn“ in der Sommerfrische: Frank Bajohr stellt heute Abend seine Studie zur Geschichte des Antisemitismus in Seebädern vor

von ANDREAS SPEIT

Die „Hymne“ gehörte zum Repertoire auf Borkum. Täglich intonierte die Kapelle bei Kurkonzerten das „Borkum-Lied“, und die Gäste sangen die letzte Strophe: „Es herrscht im grünen Inselland ein echt deutscher Sinn, drum alle, die uns stammverwandt, zieh‘n freudig zu dir hin. An Borkums Strand nur Deutschtum gilt, nur deutsch ist das Panier. (...) Doch wer dir naht mit platten Füßen, mit Nasen krumm und Haare kraus, der soll nicht deinen Strand genießen, der muß hinaus! Der muß hinaus!“.

Nicht nur Borkum, erklärt Frank Bajohr, auch andere deutsche Seebänder und Kurorte bekundeten bereits während des Kaiserreichs, dass „jüdische Gäste“ unerwünscht seien. In seiner Studie Unser Hotel ist judenfrei untersucht der Lehrbeauftragte der Universität Hamburg den „Bäder-Antisemitismus im 19. und 20 Jahrhundert“. Vor allem basierend auf der deutsch-jüdischen Presse reflektiert Bajohr das Phänomen, um die „Dimensionen alltäglicher Judenfeindlichkeit“ sowie die „Kontinuität und Diskontinuität“ von gesellschaftlichem Antisemitismus zu analysieren.

Mit dem Aufschwung des Tourismus, stellt Bajohr fest, deklarierten sich Badeverwaltungen, Hotel- und Pensionsbetreiber gerne als „‚judenfrei‘, um antisemitisch gesonnene Feriengäste aus der Mitte der deutschen Gesellschaft anzusprechen“. Gerade jene Bade- und Kurorte, die nicht das Flair alter Adelsbäder besaßen, warben wie Hiddensee – „Kein Luxusbad, judenfrei“ – oder warnten wie Büsum: „Deutsches Bad“.

Mit Erfolg: Das mittelständige Bürgertum reiste gern zu den Erholungsgebieten mit „antisemitische[n] Gemeinschaftsrituale[n]“, wo „die symbolische Ausgrenzung der Juden nicht nur sicht- sondern auch hörbar“ vollzogen wurde. An den „merkwürdigen Widerspruch“ zwischen den extremistischen Mentalitäten der Badegäste und der bürgerlichen Fassade erinnert sich Toni Cassirer, Ehefrau des Philosophen Ernst Cassirer: „Die Männer waren die zärtlichsten Väter und die ritterlichsten Beschützer ihrer Frauen; die Frauen die (...) liebevollsten Mütter und Ehegattinnen – während sie gleichzeitig den Kampf gegen die ,Andersartigen‘ mit skrupellosen Mitteln und (...) Ausdrücken führten.“ Nur eines der Erlebnisse von jüdischen Feriengästen, die Bajohr anführt. Weitere Berichte offenbaren, dass die unerwünschten Gäste geschmäht, beleidigt und auch tätlich angegriffen wurden. Zur Warnung mussten jüdische Vereinigungen lange Listen „antisemitischer Badeorte und Hotels“ veröffentlichen.

Der „Bäder-Antisemitismus“ breitete sich ab 1870 in Deutschland aus, resümiert Bajohr, erlebte nach 1918 eine Radikalisierung und ging nach 1933 in eine „organisierte Ausgrenzung“ über. Auch in anderen Ländern waren jüdische Urlauber von dem „Sommerfrische- und Winter-Antisemitismus“ betroffen. Das „Besondere des deutschen Antisemitismus“, bilanziert Bajohr, liege jedoch in der „radikalen ideologischen Qualität“.

Auf Borkum erklangen so dann auch weitere Verse wie „Bewahrt deutsche Art und Sitte (...) Laß‘t keinen Jud‘ in Eure Mitte“. Die Gemeinde wehrte sich gegen jegliche Verbotsversuche. Denn ein „wirtschaftlicher Schaden“ sei zu befürchten, mahnte der Bürgermeister, außerdem würde das „nationale Empfinden der Gäste“ durch die „provozierende Handlung Andersgesinnter verletzt“.

Lesung: heute, 20 Uhr, Buchhandlung in der Osterstraße (Osterstr. 171)Frank Bajohr, „Unser Bad ist judenfrei“. Bäder- Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt, Fischer (Tb.), 232 Seiten, 12,90 Euro