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Archiv-Artikel

Mann mit Dylan-Maske

Zu Halloween 1964 wendet sich die Karriere von Bob Dylan: Der Protestsänger beginnt sich über sein Image lustig zu machen. Nun ist das Konzert in der New Yorker Philharmonie offiziell erschienen

VON MAX DAX

Der junge Mann kichert in einem fort, als wäre er bekifft. Macht lustig-absurde Ansagen. Der nächste Song ist ein sehr witziger Song, kicher. „Yes, it’s a very funny song“ (harr, harr, harr). Reingefallen. Der Song ist gar nicht witzig, heißt „It’s Alright Ma, (I’m Only Bleeding)“ und ist düster, apokalyptisch, ernst, paranoid, es geht um Entfremdung und den ganzen Wahnsinn um uns herum, um Freiheit und Repression, damals wie heute. Aber die im Publikum wissen nicht, wie ihnen geschieht. Wie denn auch. Sie kennen den Song noch nicht. Sie hören ihn und die Zeile „Sometimes even the president of the United States / Has got to stand naked“ zum ersten Mal, ahnen vielleicht, dass dieser Song eines Tages als Klassiker gelten wird. Es ist Halloween 1964. Vor ihnen, auf der Bühne der ausverkauften New Yorker Philharmonic Hall, steht ein 23-jähriger Sänger, der als neuer Heilsbringer gefeiert wird, als König des Folk, einer, der die im Kalten Krieg befindliche Welt mit seinen „Protest“-Songs retten soll. Ein großes Missverständnis.

Der Mitschnitt des Konzerts von Bob Dylan in der Philharmonic Hall kursiert seit fast vierzig Jahren als Bootleg, die Performance gilt als herausragend, das Konzert als Wendepunkt in der Karriere des Sängers. Diesen besonderen Status hat das Konzert, auf dem Dylan insgesamt 18 Songs singt, davon drei im Duett mit Joan Baez, vor allem auch deshalb, weil sich der Sänger öffentlich über sein Image als Weltverbesserer und seinen Status als gutes Gewissen seiner Fans lustig macht. Der Umgangston mit dem Publikum ist spontan, entspannt, pointiert; der da zwischen den Songs kontrollierten Unsinn redet, klingt wie einer, der die Freiheit entdeckt hat, sich über Erwartungshaltungen hinwegzusetzen.

1964 ist das Jahr 1 nach dem Kennedy-Attentat, das Jahr, in welchem der neue Präsident Johnson voll auf den Vietnamkrieg zu setzen beginnt. In den Liner Notes zu „Live 1964 – The Bootleg Series Vol. 6“ (Columbia / Sony) erinnert Sean Wilentz, Universitätsprofessor in Princeton und Verfasser eines Buches über amerikanische Balladen, daran, dass an einem einzigen Tag im Oktober, wenige Tage vor dem Konzert, der russische Präsident Nikita Chruschtschow gestürzt wurde – und China seine erste Atombombe testete.

„It’s Halloween. I have my Bob Dylan mask on. I’m masquerading“ (harr, harr, harr). Der Satz ist vielsagend. Dylan lässt ihn fallen zwischen zwei Songs. Auch das Publikum lacht. Was sie nicht ahnen: Der junge Mann meint es ernst mit der Ankündigung. Der Mann auf der Bühne ist schon ganz woanders, als das Publikum denkt. Das damals gerade aktuelle Album „Another Side Of Bob Dylan“ war bereits eine Abkehr von der politischen Parteinahme, ein Aufbruch in das eigene Innenleben, ein zarter Ausflug ins Surreale, das erste Album, für das der Sänger öffentliche Kritik einstecken musste: So sehr, dass Johnny Cash sich genötigt fühlte, einen offenen Brief zur Verteidigung des Sängers an die Redaktion des Folk-Magazins Sing Out! zu schreiben, einen Brief, von dem Dylan im September 2003 in seinem herzzerreißenden Nachruf auf Cash („he was and is the North Star. You could guide your ship by him“) zugab, die Ausgabe von Sing Out!, in der er seinerzeit veröffentlicht wurde, bis zum heutigen Tag aufgehoben zu haben.

Am 31. Oktober 1964 brach Dylan auf, sich von seinem Publikum zu verabschieden. Wie ernst es Dylan mit den neuen Außen- und Innenwelten war, konnte ein Jahr später bestaunt werden: Statt mit Akustikgitarre erklomm Dylan 1965 gemeinsam mit einer Rockband die Bühne des Newport Folk Festival, ein weiteres Jahr später erschien mit „Blonde On Blonde“ das Album, das vielen als Dylans bestes gilt, das Album, auf welchem der Sänger seine Vorstellung von Sound wie ein Architekt und gegen alle Widerstände definierte und fortan als „that thin, that wild mercury sound“ beschrieb. In der Philharmonic Hall begleitet Dylan sich selbst noch mit Akustikgitarre und Mundharmonika.

Aber auch ohne das Wissen um den Kalten Krieg und die Zukunftsmusik, die folgen sollte, ist „Live 1964“ eine spannende Sache. Dylans Timing ist umwerfend, seine Stimme schneidend. Die Tradition des Talking Blues aufgreifend, erinnern etliche der Songs an das, was man heute Slam Poetry nennen würde. Auf eine wiederkehrende, einfache Akkordfolge sprechsingt Dylan in einem seltsam verschleppten Stil seine manchmal wie endlos erscheinenden Texte.

Da ist dieser Song „Who Killed Davey Moore?“, wie der „Talkin’ John Birch Paranoid Blues“ ein Stück, das Dylans Plattenfirma CBS gerüchteweise wegen zu politischer Aussagen von seinem anstrengenden zweiten Album „Freewheelin’ “ gekickt hatte. In dem Song singt Dylan von Davey Moore, einem Federgewicht-Boxer, der nach einem Kampf mit Sugar Ramos 1963 in ein Koma fiel und nach wenigen Tagen verstarb. Der Vorfall hatte eine große öffentliche Debatte über den Boxsport ausgelöst, den Boxfan Dylan inspirierte der Todesfall zu einem meisterlichen Song über Doppelmoral und Korruption: Der Ringrichter, die Zocker, der Manager, der Sportreporter, das Saalpublikum, der Boxer, der ihn niederstreckte, sie alle kommen zu Wort und erzählen das Niederschlagen aus jeweils ihrem Blickwinkel – nicht ohne darauf zu verweisen, dass sie keine Schuld an dem Tod des Boxers träfe.

Das Publikum spendet euphorischen Beifall, nachdem es den Song – immerhin 1964 noch unveröffentlicht – erkannt hat. Und auch hier ist es wieder Dylan, der in seiner Ankündigung das Verwirrspiel mit den Erwartungshaltungen perfekt zu spielen weiß: „This is ah, this is a song about a boxer … it’s not anything to do with a boxer really. It’s got nothing to do about nothing. But I threw all these words together, that’s all. This is taken out of the newspapers. Nothing has been changed except the words“ (kicher, lach, Publikum lacht auch, harr).

Das Konzert hat seine Höhepunkte, und das sind die epischen, surrealen, damals neuen Songs, konkret: „Gates Of Eden“, „Mr. Tambourine Man“ und das bereits erwähnte „It’s Alright Ma (I’m Only Bleeding)“, die ein Jahr später auf dem Album „Bringing It All Back Home“ ihre Veröffentlichung erfahren sollten. Auf der anderen Seite ist da der vier Songs umfassende Gastauftritt von Joan Baez, der Galionsfigur der Folk-Szene und Dylans weiblichem Gegenstück, eine Performance, die aus heutiger Sicht schaurig wirkt.

Für das Publikum muss die Liebesbeziehung zwischen Dylan und Baez wie eine romantische Heldengeschichte ausgesehen haben, entsprechend laut ist der Applaus, als Baez die Bühne betritt. Musikalisch allerdings trennen die beiden schon damals Welten – auch das beweisen das Konzert und die Karrieren der beiden in den darauf folgenden Jahrzehnten. Da sind der Sopran und die Ernsthaftigkeit von Joan Baez, die so gar nicht mit Dylans entertainendem und doch hochkonzentriertem Auftreten zusammenpassen wollen. Das Missverständnis, dass Musik eine weltbekehrende Aufgabe zu haben hätte, es kommt zum Ausdruck, wenn ein Song wie „With God On Our Side“ von Baez geschmettert wird, als sänge sie einer Großdemonstration gegen den Vietnamkrieg vor, während Dylans Vortrag eher dem eines aus dem alten, unheimlichen Amerika entstiegenen Geschichtenerzählers gleicht. Zwei Songs später folgen die Zugabe und ein Zwischenruf aus dem Publikum, wo ein Zuschauer den Sänger scherzhaft auffordert, mit „Mary Had A Little Lamb“ ein populäres Kinderlied zum Besten zu geben. Der Sänger geistesgegenwärtig zum Rufer: „God! Did I record that? Is that a protest song?“

„Live 1964“ ist vor allem deshalb ein beeindruckendes Dylan-Album, weil es in Erinnerung holt, dass dieser Troubadour ein Mann mit vielen Gesichtern war und ist. Ähnlich wie Pablo Picasso durch mehrere Phasen gegangen ist – eine realistische, eine abstrakte, eine kubistische – um im Alter schließlich eine Revision seines Werks vorzunehmen, so kann auch Bob Dylans Werk in abgeschlossene Phasen aufgeteilt werden (und eine revisionistische im Alter). Wie eine Werkschau kommt daher auch die lose Folge der „Bootleg Series“ daher, deren sechste Folge das Konzert in der Philharmonic Hall darstellt.

Die beiden vorangegangenen Folgen (die frühe elektrische Rockphase mit „Live 1966“ und die legendäre Rolling-Thunder-Tournee mit „Live 1975“) schlossen nicht nur Lücken einer ansonsten gut dokumentierten Karriere – Lücken, die zuvor lediglich von einem Schwarzmarkt bedient worden waren und den jeweiligen Konzerten schon lange vor ihrer offiziellen Veröffentlichung den Status von Klassikern gegeben haben. Die Folgen der „Bootleg Series“ bestachen immer auch durch dicke Begleit-Booklets mit seltenen Fotografien und informativen Texten – und eine Klangqualität, die ihresgleichen sucht. Das verwundert im speziellen Falle von „Live 1964“ übrigens kaum, denn CBS hatte das Konzert für eine offizielle Vermarktung seinerzeit professionell aufzeichnen lassen – in der New Yorker Philharmonie, wo sonst Leonard Bernstein seine Klassikkonzerte aufführte. Anders als die vorangegangenen energetischen, amphetamingetriebenen, wilden zwei Folgen der „Bootleg Series“ ist das Halloween-Konzert allerdings geradezu intim, freundlich und doch ganz Statement von einem, der längst mehr neue Visionen im Kopf hatte, als das Publikum ahnte. Wo diese den Sänger hingeführt haben, kann man im Juli in Bonn und Worms hören, wenn Dylan seine einzigen zwei Deutschland-Konzerte geben wird. Nur die witzigen Ansagen sind mittlerweile sehr, sehr selten geworden.