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Archiv-Artikel

Keine intellektuellen Versager

Langzeitstudenten haben oft psychosoziale Defizite und wenig konkrete Berufsperspektiven. Dennoch ist Druck der falsche Weg, denn fachliche und psychologische Betreuung ist individuell wie gesellschaftlich erfolgversprechender

Langzeitstudenten haben einen schlechten Ruf. Sie gelten in Volkes Stimme als faul und bequem. Deshalb müssen sie oft den Spott von Kommilitonen und Bekannten ertragen. Wenn man freundlich über diese angeblichen Schluffis spricht, heißt es, sie hätten Schwierigkeiten, erwachsen zu werden und ins Berufsleben einzutreten.

Eine kürzlich abgeschlossene Studie der Universität Göttingen weist jetzt nach, dass Langzeitstudenten nicht nur Häme und Spott als ständigen Begleiter kennen, sondern häufig auch unter erhöhtem Leistungsdruck leiden und mit psychosozialen Defiziten kämpfen.

Die Studie greift auf Befragungen von Studenten mit 14 oder mehr Hochschulsemestern zurück, die sich in der ärztlich-psychologischen Beratungsstelle der Universität Göttingen gemeldet haben.

Auffällig ist, dass männliche Studenten offensichtlich größere Schwierigkeiten haben, ihre akademische Ausbildung zu bewältigen. Immerhin waren 60 Prozent der Ratsuchenden männlich. Manfred Kuda, der die Untersuchung durchführte, meint, dass der hohe Anteil von Männern sich durch eine geschlechtsspezifische Sozialisation erkläre. Eltern würden von ihren Söhnen oft besonderes gute Leistungen erwarten. Dies treffe insbesondere auf Väter ohne akademische Ausbildung zu.

„Die Gruppe der Langzeitstudenten ist genauso wie deren Probleme nicht homogen“, urteilt Kuda. Allerdings ließen sich bei dieser Gruppe einige charakteristische Besonderheiten feststellen: So hätten Langzeitstudenten eine erhöhte Prüfungsangst. Sie erlebten Prüfungen eher als Kreuzverhör und seien unsicher.

Auffällig seien Langzeitstudierende auch, weil sie verstärkt psychosoziale Defizite haben. Diese können durchaus existenziell sein – bis hin zur Selbstmordgefahr. Suizidal-depressive Tendenzen, so Kuda, würden sich oft durch Traurigkeit und Gefühle der Sinnlosigkeit zeigen und führten dazu, dass die Betroffenen in einmal erreichten problematischen Zuständen verharren. Hilfe von außen sei in diesen Fällen notwendig. Hinzu komme, dass die Betroffenen ein vermindertes Selbstwertgefühl und vermehrt Probleme mir ihren Partnern hätten. Andererseits lebt ein nicht unerheblicher Teil der Befragten in festen Beziehungen.

Es zeige sich auch, dass Langzeitstudenten zu Unrecht als faul gelten. Denn sie investieren mit 30 Stunden pro Woche kaum weniger Arbeitszeit ins Studium als andere. Allerdings würden diese Studenten Lehrveranstaltungen seltener besuchen als andere. Deshalb überrasche es nicht, dass auch die Identifikation mit dem Studienfach geringer sei als üblich. Langzeitstudenten würden häufiger ein anderes Studienfach wählen, wenn sie sich noch einmal neu entscheiden könnten. Das liegt vielleicht auch daran, dass bei dieser Gruppe eine konkrete Berufsperspektive vergleichsweise selten anzutreffen ist. Andererseits sind die Noten offensichtlich nicht unterdurchschnittlich.

So genannte Langzeitstudenten werden in der Diskussion um eine effizientere universitäre Ausbildung oft als Hindernis angesehen. Die Hochschulen haben in den vergangenen Jahren deshalb für diese ungeliebte Gruppe Sanktionen eingeführt, die von Zwangsberatungen über erhöhte Gebühren bis hin zur Zwangsexmatrikulationen reichen. Diese Sanktionen führen im Sinne von Politik und Verwaltung durchaus zum Ziel. So sank der Anteil der Studenten zum Beispiel an der Technischen Universität Berlin mit 14 oder mehr Fachsemestern im Zeitraum von 1998 bis 2003 von 22 auf 14,6 Prozent. Diese deutliche Tendenz lässt sich auch an den anderen Berliner Universitäten nachweisen und spiegelt darüber hinaus einen bundesweiten Trend.

An der Göttinger Universität führten Studiengebühren in Höhe von 500 Euro pro Semester ab dem 14. Hochschulsemester zu einem Rückgang der eingeschriebenen Langzeitstudenten von 70 Prozent. Politiker dürfte diese Zahl zufrieden stimmen, nicht jedoch Fachleute wie Manfred Kuda: „Bereits eingesetzte finanzielle Mittel werden verschleudert. Das Hinausjagen von Langzeitstudenten aus der Universität ist gesellschaftlich wie individuell der falsche Weg.“ Zwar sei finanzieller Druck, so Kuda, im Einzelfall motivierend, mehrheitlich aber nicht. „Eine spezifische Unterstützung für Langzeitstudenten ist viel sinnvoller, als sie mit Druckmitteln zur Aufgabe zu zwingen.“ In vielen Fällen würden schon einige Beratungen reichen, um neue Anstöße zu geben. Problematisch sei, dass die arbeitsintensive Betreuung von Langzeitstudenten von den Fachbereichen immer weniger geleistet werden könne, weil der Arbeitsdruck für Professoren zugenommen habe.

TILMAN VON ROHDEN