Ketchupappell

Kunst mit reinigender Wirkung: Das Werk eines Unbekannten ruft an der Schlachte zur Ordnung

Ein Vorübergehen ist plötzlich unmöglich. Etwas hält den Blick fest, ja, es zwingt ihn zurück: Zurück auf die steinernen Abdeckungen, die, wie ein Geländer, das mit dem Weg ansteigende Mäuerchen vom Martinianleger zur Schlachte hinauf säumen. Blütenweiß und kompromisslos rot: So steht es da, das mit Kunstharz imprägnierte pappene Frittenschälchen, am gewellten Rande einen großen Klecks‘ Tomatenketschup, den ein zarter, allmählich sich festigender Film umschließt.

Abfall, ist der erste Gedanke. Schweinerei. Aufheben und weg damit. Nur, nicht jeder Dreck wäre in der Lage, die Aufmerksamkeit zu bannen, geschweige denn signalhaft ins mittagsschwül umdämmerte Bewusstsein vorzustoßen: Aufheben! Das ist eine sinnhafte Botschaft und ein auf feinsinnige Weise unausgesprochenes Wortspiel, ein sublimierter Kalauer mit dem Namen der roten Masse.

Der Blick wird präziser: Keine schmierigen Streifen, keine Einbuchtung der trocknenden Haut – scharf sind die Konturen der sämigen Soße auf makelloser Schale. Nein, in diese wurde keine Wurst jemals getunkt und keine Fritte! Der Ketschup bringt, makellos, seine Gestalt hervor – als Zeichen seiner selbst. Ein Eindruck, den der räumliche Kontext noch verstärkt: die rhythmischen Strukturen des Pflasters im Hintergrund, die Ruhe des als Sockel dienenden bemoosten Steines – Hier ist bewusst gesetzt, „ein“, so möchte man mit Mörike ausrufen, „sanfter Geist des Ernstes doch ergossen um die ganze Form“! Und in den klebrigen Dunst des Nachmittags hinein explodiert die Erkenntnis: Es ist Kunst!

Zugegeben, das Werk wäre leicht zu übersehen.Achtlos deponierte Imbissrückstände gibt es zum Überdruss in der Stadt: Betrüblich ist das schon, denn nicht selten zeugen Besteck und Mundtücher der Buden von liebevoller Auswahl. Das wäre doch bei näherer Betrachtung etwas zum Zusammenfalten, ein Mitbringsel für die Kinder, ein Souvenir an die harmonisch aufeinander abgestimmte Aufmachung der fahrbaren Restaurants auf dem Markt. Jene Symphonie in Blau von „Schorse’s Fischkombüse“ etwa, oder die nassforsche Rustikalität einer anderen Bude, wo man Zewawischundweg-Servietten zum bürgerlichen Mahl unter Frakturschrift reicht.

Doch so sehr diese geformte Esslandschaft einen wahren Genießer fordert, sie verschließt sich, dienstbar wie jedes gute Design, auch dem gedankenlos Futternden nicht. Und gerade in der warmen Jahreszeit treibt’s zahllose Menschen, ihr Mittagsmahl wie eine Notdurft zu verrichten. Kaum ein Wunder, dass etliche von ihnen sich auch des dafür erforderlichen Zubehörs bar jeden Nachsinnens entledigen.

Ganz im Gegensatz dazu jedoch die Installation am Martinianleger: „Der Charakter der Zeit“, wusste Schiller, müsse sich „aus seiner tiefen Entwürdigung erst aufrichten“, sich „der blinden Gewalt der Natur“ entziehen. Gerade indem er die Praxis der Achtlosigkeit zitiert, hat sich nämlich ihr anonymer Bildner jene ästhetisch-erzieherische Aufgabe auf die Fahne geschrieben: Solange die Installation, das ist seine feine Ironie, als Catch-up-Appell nicht beseitigt ist, wird sich ihrem Aufruf zur Reinlichkeit kein Betrachter entziehen.

Benno Schirrmeister