piwik no script img

Archiv-Artikel

Eine verdrängte Profession

Bei den Pisa-Siegern gehören Schulpsychologen wie selbstverständlich zum Lehrpersonal. In Deutschland werden die Lern- und Kommunikationsberater nur in Krisenfällen gerufen. Und fristen ansonsten ein Nischendasein

DUISBURG taz ■ Wir wissen inzwischen viel über die organisatorischen und kulturellen Hintergründe der Bildungserfolge bei den Pisa-Siegern. Eines blieb jedoch während der Debatte um die Schulstudie im Dunkeln: dass erfolgreiche Länder umfangreiche so genannte Unterstützungssysteme bereithalten. In ihnen arbeiten SchulpsychologInnen und SozialarbeiterInnen mit Lehrern zusammen, um das Kind beim Lernen und in der Entwicklung seiner Persönlichkeit zu unterstützen. Auf 1.000 Schüler kommt etwa in Helsinki ein Schulpsychologe; in Deutschland beträgt dieses Verhältnis etwa 15.000 zu 1.

Schulpsychologen gehören etwa in Skandinavien wie selbstverständlich zum Lehrpersonal. Ihr Job gilt weniger den Verhaltensauffälligen als dem Schulalltag. Sie bringen die psychologische Dimension des Lernens ins Spiel, wenn Kindern Lesen, Schreiben und Rechnen schwer fällt. Sie unterstützen Lehrer darin, den Belastungen standzuhalten. Sie lösen Kommunikationsblockaden, die Lehrer allein nicht beiseite räumen können.

Die Ignoranz der Politik und der Schulbürokratie ist eine Ignoranz der Gesellschaft. Sie bilden ein geschlossenes System, das die institutionalisierte Aufmerksamkeit für Individualität abwehrt, etwa in Gestalt der Schulpsychologie. Dennoch existiert Schulpsychologie in Deutschland – wenn auch in jedem Bundesland anders. So arbeiten die SchulpsychologInnen in Bayern an einer Schule meistens nur sechs Stunden pro Woche, ansonsten sind sie Lehrer. In NRW haben Kommunen solche Fachkräfte – freiwillig – in Beratungsstellen geholt, zusätzlich betreibt das Land eine eigene Schulpsychologie. In Hamburg arbeiten sie in „multiprofessionellen Teams“ – wobei sie teilweise dazu angehalten sind, ihren Beruf zu verschweigen. Berlin, Rheinland-Pfalz und Niedersachsen machen derzeit auf sich aufmerksam, indem sie an der Schulpsychologie kürzen.

Dabei konnte sich kaum eine Berufsgruppe an der Schule nach Pisa so bestätigt sehen wie die SchulpsychologInnen. Die Hoffnung aber, ihre Kompetenz würde in die Reformen einfließen, ist enttäuscht worden. Über die Ursachen dafür berieten verschiedene schulpsychologische Verbände bei einem Treffen in Soest (Nordrhein-Westfalen).

Rasch wurde angesichts sechzehn verschiedener Situationen der Schulpsychologie klar, dass es keine beste Organisationsform wird geben können. Wohl aber einigte man sich auf Merkmale einer Schulpsychologie, die Schule wie Kinder unterstützen kann. Schulpsychologie sollte sich bundesweit begutachten lassen, damit nach dem Prinzip der „besten Beispiele“ erfolgreiche Konzepte in den Ländern entstehen können. Organisierte Lehrer und Eltern sollten den Blick weiten – und auf den Ausbau der Schulpsychologie Wert legen. Die Schulpsychologen selbst monierten, dass Lehrer professionelle psychologische Unterstützung bestenfalls für die Betreuung schwieriger SchülerInnen fordern – aber nicht als Beratungsinstrument für den Alltag von Lehrern und Schülern.

Gift für die Entwicklung der Schule (wie auch für die Profession) ist, wenn in „multiprofessionellen Teams“ die Berufsidentitäten von Psychologen, Sozialpädagogen und Hilfslehrern verschwimmen. Das Gegenteil ist Erfolg versprechend: Unterschiedliche Berufe leisten unterschiedliche Beiträge – und schaffen so ein gutes Produkt. Zunehmende Selbstständigkeit der Schulen kann für die Schulpsychologie eine Chance sein. Schulen, die es für ihr Profil als nützlich erachten, sollten das Instrument „Schulpsychologie“ in ihr Programm aufnehmen. Die SchulpsychologInnen müssten im Gegenzug lernen, sich „kundenorientiert“ zu verhalten, wohl wissend, dass sie in aller Regel Teil des „Apparats“ sind.

Klar wurde in Soest auch: Die Schulpsychologie kann sich nicht unabhängig davon entwickeln, wie die Frage nach Zweck und Ziel der Schule beantwortet wird. Fiele im Bildungssystem eine Entscheidung zu jener „individuellen Förderung“, die bei den Pisa-Siegern Leitmotiv der Schule ist, so hieße dies beinahe zwangsläufig: die Schulpsychologie neu zu bewerten. Und sie stärker in die Schule einzubeziehen. JÜRGEN MIETZ

Der Autor ist Schulpsychologe