: „Utopisches Denken ist zyklisch“
INTERVIEW BERND PICKERT
taz: Ich habe auf einer Internet-Website einen Kommentar von jemandem gesehen, der Ihr 1974 erschienenes Buch „Ökotopia“ jetzt gelesen hat und schrieb, er möchte da sofort hinziehen!
Ernest Callenbach: Vielleicht sollte ich Pässe ausstellen …
Wann haben Sie „Ökotopia“ zum letzten Mal gelesen?
Vor ungefähr einem Jahr. Ich wollte wissen, ob die schlechten Dinge, die ich die US-amerikanische Regierung in dem Buch tun lasse, von George Bushs Regierung ein- oder überholt worden waren. Ich habe tatsächlich herausgefunden, dass das, was er macht, noch viel schlimmer ist. Die Dinge, die ich mir ausgedacht habe, die dann zur Abspaltung Ökotopias von den USA führen, sind tatsächlich alle passiert, und noch mehr.
Aber Kalifornien ist heute nicht Teil von Ökotopia, sondern hat einen Gouverneur Arnold Schwarzenegger …
Es gehörte ja nur der nördliche Teil zu Ökotopia … Aber das Lustige in Sachen Arnold ist, dass er in Umweltfragen ziemlich gut ist, besser jedenfalls als sein demokratischer Vorgänger Grey Davis.
Wir wollen ja in der taz-Ausgabe vom 17. April 25 Jahre vorausblicken. Das erscheint als eine lange Zeit, und so muss es Ihnen auch vorgekommen sein, als Sie 1974 auf das Jahr 1999 guckten. Im Rückblick hat sich gar nicht so viel verändert, oder?
In vielerlei Hinsicht haben wir sogar Rückschritte erlebt. Unsere Abhängigkeit vom Automobil, unsere Stadtentwicklung – das sind alles furchtbare Rückschritte. Es gibt einige Fortschritte bei der Energieerzeugung – Wind- und Solarenergie – und in anderen Bereichen fangen wir gerade an, uns Gedanken zu machen, etwa beim Design unserer Städte in den USA. Ihr in Deutschland seid uns da voraus. Wir fangen an, das Prinzip „Erreichbarkeit durch Nähe“ umzusetzen – im Unterschied zu technologisch immer neuen Lösungen, um von A nach B zu gelangen. Die Welt hat die Chance zur Umkehr, weg von der Zerstörung, dem Zerfall und der Verarmung, die sowohl Umwelt wie auch Gesellschaften betreffen. Ich glaube, dass es eine wunderbare Übung ist, 25 Jahre nach vorn zu schauen. Auf den Planwagen der amerikanischen Pioniere stand einst „California or bust“ – heute gilt, glaube ich: „Ecotopia or bust“. Wenn wir uns in den nächsten 25 Jahren nicht in Richtung Ökotopia bewegen, werden wir Chaos, Kollaps und Zerstörung erleben.
Was damals Sie und die meisten anderen nicht vorausgesehen haben, war die doch recht große Fähigkeit des kapitalistischen Systems, ökologische Ideen umzusetzen und innerhalb des Systems zum Tragen zu bringen.
Das stimmt, wenigstens zum Teil. Wie weit das aber gehen kann, ist noch nicht entschieden. Natürlich gibt es diese Umweltbewegung, die den Ansatz verfolgt, Unternehmen von innen zu ökologischen Reformen zu bringen. Und man kann da auch einiges erreichen. Obwohl ich davon überzeugt bin, dass es auf lange Sicht eine Reform der Unternehmensstrukturen geben muss – entweder in Richtung Mitarbeiterkontrolle, so wie ich das in Ökotopia dargestellt habe, oder mindestens indem man die Regeln neu festlegt, unter denen Unternehmen arbeiten. Gegenwärtig können bei einem Unternehmen die tollsten, aufgeklärtesten Ökotopianer arbeiten – sie müssten doch immer noch schreckliche Dinge tun, um dem wesentlichen Unternehmensziel der höheren Profite zu dienen.
Trotzdem: Als ich „Ökotopia“ jetzt wieder gelesen habe, musste ich über die utopische Vision der Mülltrennung doch sehr lachen. An die haben wir uns doch alle längst gewöhnt.
Als Ökotopia herauskam, war das in den USA nicht gerade weit entwickelt. Heute ist unser System vielleicht nicht so gut wie bei Ihnen, aber schon ziemlich gut, wenigstens in vielen Städten. Aber all das zeigt doch, dass sich die Gewohnheiten verändern lassen. Es ist eine ermutigende Geschichte.
Stehen Sie eigentlich zu all den Ideen, die Sie in Ökotopia aufgeschrieben haben?
Zu den meisten. Wenn ich das Buch heute neu schreiben würde, würde ich einige kleinere Änderungen aufnehmen: Bioalkohol als Treibstoff käme darin vor und Wasserstoff als Energieträger. Das Hauptproblem wäre die Globalisierung. Ich habe Ökotopia als eine separatistische, isolierte Gesellschaft vorgestellt, so wie es vielleicht China lange war. Da kann man sich heute wirklich kaum noch vorstellen, angesichts der vielfältigen Verbindungen, die weltweit in den letzten 20 Jahren geknüpft worden sind.
Was ist mit den politischen Vorstellungen und dem Verhalten der Leute in Ökotopia? Das liest sich doch alles eher wie eine große Hippiegemeinde der 70er.
Vielleicht klingt es so. Aber es ist ein Evolutionsgedanke dahinter. Jede Gesellschaft entwickelt sich weiter. Und ich bin überzeugt, dass eine Gesellschaft, deren Hauptbestandteile Neid, Konkurrenz und Gemeinheiten sind, nicht überdauern wird. Sie braucht andere, menschlichere Verhaltensweisen, um zu bestehen. Eine Gesellschaft, in der die Menschen frei leben, hat – auch wenn das heute schwer vorstellbar ist, weil der Ausschlag gegenwärtig in die andere Richtung geht – nicht viel mit einer Hippiekommune der 70er zu tun, sondern einfach mit natürlichen Konditionen der Menschlichkeit. Wenn heute junge Leute das Buch lesen, sind sie voller Hoffnung und Neid, und sagen, sie würden gern an so einem Ort leben. Und wenn sie damit anfangen, sich in ihrem Umfeld auch nur ein bisschen wie Ökotopianer zu verhalten, dann kommen wir da vielleicht einmal hin.
Sie halten zu dem Prinzip der Alternativbewegung der späten 70er- und frühen 80er-Jahre, nach dem man nicht auf die Revolution warten, sondern die Veränderungen hier und heute im persönlichen Umfeld umsetzen sollte?
Aber ja doch. Natürlich hat sich politische Veränderung oft durch revolutionäre Veränderungen ergeben. Aber wenn wir zurückschauen, sehen wir doch auch immer allmähliche gesellschaftliche Veränderungen. Wenn jeder etwas tut, dann addiert sich das über die Jahre zu bedeutsamem sozialen Wandel.
In den letzten 15 Jahren haben wir eine junge Generation gesehen, die sich für Individualität interessiert, für Spaß, persönlichen Erfolg, Aktienbesitz – für alles außer bewusster Gesellschaftsveränderung. Wie können Sie da optimistisch sein?
Ich bin nicht sicher, ob das stimmt. Fragen Sie einmal hier in Berkeley zum Beispiel, an der University of California, junge Leute, kaffeesüchtige, leistungsorientierte, arbeitssüchtige maniacs, was sie machen wollen, wenn sie älter werden: Unglaublich viele werden Ihnen sagen, dass sie Lehrer werden wollen. Lehrer ist in der amerikanischen Gesellschaft ein sehr schlecht angesehener Beruf: Die Bezahlung ist nicht sehr gut, die Bedingungen sind grauenvoll, die Arbeit ist fast unmöglich zu leisten – und trotzdem haben sie die jungen Leute, die ihre Zukunft darin sehen, noch jüngere zu unterrichten.
In den 70ern fühlten sich viele Menschen an der Schwelle eines gesellschaftlichen Umbruchs, in vielen Staaten gab es soziale und politische Bewegungen in ähnlicher Richtung. Damals so etwas wie „Ökotopia“ zu schreiben, hatte eine Logik. Käme man heute eigentlich auf die Idee?
Ich weiß es nicht. Das utopische Denken ist sehr alt und verläuft offenbar in Zyklen: Es kommt immer eine Zeit, da das jeweils alte Denken nicht mehr ausreicht und immer mehr Probleme ungelöst lässt – in dieser Zeit fangen Menschen an, utopische Bücher zu schreiben, über Alternativen und neue Wege. Heute, scheint mir, kommen wir in so eine Zeit. Kurz nach dem Fall der Mauer war das anders, da sprach man sogar vom „Ende der Geschichte“. Aber wir haben alle begriffen, dass die Heilsversprechen des Kapitalismus so nicht funktionieren und dass wir neue Ideen brauchen. Und vielleicht taucht in irgendeinem Land ein junger Autor auf, der ein utopisches Buch schreibt und ein neues Bild von dem Weg zeichnet, den wir vielleicht gehen könnten.
Es gibt ja eine ganze Branche, die sich mit der Entwicklung von Zukunftsszenarien beschäftigt – im Auftrag von Unternehmen, Regierungen und manchmal der Öffentlichkeit. Selbst das utopische Denken scheint in die Marktlogik eingebettet. Können wir wirklich unabhängig genug denken, um ein so wünschenswertes Bild aufzubauen wie Ökotopia?
Der heutige Konsumkapitalismus gibt keine wirkliche Vision. Seine Philosophie ist: „Mehr“. Die Vision ist lediglich, zu arbeiten, zu kaufen, zu arbeiten, mehr zu kaufen. Das ist nicht genug. Das menschliche Leben ist mehr als eine ökonomische Größe. Wir alle sehnen uns nach Gemeinschaft und Solidarität und gegenseitiger Unterstützung und nach einem Sinn des menschlichen Lebens, der mehr ist als das Wesen einer gemeinen Spezies, die den Globus ausplündert. Wir wollen verantwortliche Spieler im Spiel der Welt sein. Wenn Ökotopia dabei hilft, so eine Vision zu geben, dann ist es gut.