: Einmal war er zu still
Hätte der Präsident den 11. 9. verhindern können? Ein CIA-Papier ist offen für jede Antwort
AUS WASHINGTON MICHAEL STRECK
Die Zeugenaussage von Condoleezza Rice vor der Untersuchungskommission zum 11. September 2001 sollte US-Präsident George W. Bush endgültig aus der Schusslinie ziehen und die Debatte um die Versäumnisse seiner Regierung zu den Akten legen. Stattdessen sieht sich das Weiße Haus plötzlich mit neuen, unangenehmen Fragen konfrontiert.
Während der Anhörung wurde Rice nach einem bislang unbekannten Papier befragt, das Bush am 6. August 2001 vorgelegt und in dem er durch die US-Geheimdienste vor geplanten Flugzeugentführungen und Anschlägen der Terrororganisation al-Qaida in den USA gewarnt wurde. Auf Druck der Kommission veröffentlichte das Weiße Haus am Osterwochenende den vertraulichen Aktenvermerk mit dem Titel „Bin Laden entschlossen zu Schlag in den USA“ (siehe die Dokumentation unten). Erst einmal, während des Vietnamkriegs unter Präsident Lyndon Johnson, ist ein derartiges Memo des „Presidential Daily Briefing“ – der tägliche Lagebericht –noch während der Amtszeit eines Präsidenten freigegeben worden.
Es ist richtig, wie Condoleezza Rice vor dem Ausschuss zu Protokoll gab, dass das Memo keine spezifischen Hinweise und Warnungen enthält. Dennoch überraschte die Erkenntnis, wie sehr die Geheimdienste über Attentatsszenarien im Bilde waren. Zudem ist das brisante Papier offen für Interpretationen. Genau dies öffnet dem Washingtoner Schuldzuweisungsspiel alle Toren – eine Situation, die das Weiße Haus im laufenden Wahlkampf unbedingt vermeiden wollte. Während die Opposition der Bush-Regierung nun vorwirft, die Dringlichkeit nicht erkannt und entsprechend reagiert zu haben, sehen die Republikaner ihren Präsidenten reingewaschen. Aufgrund des unspezifischen Memos habe er nicht energischer handeln müssen.
Es sei jedoch nicht entscheidend, ob man über genug konkrete Hinweise verfügt habe, sagt Jim Walsh, Terrorexperte an der Kennedy School of Government der Harvard University. „Die entscheidende Frage ist, ob die Regierung so sehr Alarm schlug, dass es im ganzen Sicherheitsapparat widerhallte und jeder FBI-Beamte Bescheid wusste.“ Hunderte von Interviews mit FBI-Mitarbeitern durch die „9/11“-Kommission bestätigen, dass genau das nicht der Fall war. Und das, obwohl Rice vergangene Woche vehement versuchte, glaubhaft zu machen, aufgrund der sich verdichtenden Terrorwarnungen sei die Regierung im Sommer 2001 in erhöhter Alarmbereitschaft gewesen. Bush habe damals sein ganzes Team „auf Gefechtsstationen entsandt“, sagte die Sicherheitsberaterin am Donnerstag.
Doch eine Rückschau in eben jenen Sommer 2001 zeigt einen Präsidenten, der zumindest bei seinen öffentlichen Auftritten alles andere als alarmiert wirkte. Detailliert und minutiös listen die Wochenendausgaben der amerikanischen Zeitungen Bushs gesamte Aktivitäten im August und frühen September 2001 auf. Fotos zeigen einen sorglosen Bush beim Golfspielen, der sich auf seinem texanischen Landsitz entspannt. Auch bei Reden tauchte das Wort Terrorismus nicht auf. Von einem „Muster der Passivität“ spricht daher die Los Angeles Times. Kommissionsmitglied und Demokrat Bob Kerry sagte, Bush hätte gewarnt sein müssen und mehr Informationen von Geheimdiensten über mögliche Flugzeugentführungen anfordern sollen.
Kritik erntete auch Rice’ Argument während der Anhörung, bei den im Memo präsentierten Hinweisen würde es sich lediglich um „historisches Material“ handeln, nichts, was also auf eine akute Bedrohung hinweisen würde. „Geschichte ist, was bis gestern passierte“, entgegnet Judith Yaphe, Sicherheitsexpertin an der National Defense University in Washington. „Wenn Sie ein Memo für den Präsidenten schreiben, heißt das automatisch, es gibt einen Grund, warum er unterrichtet sein soll.“
Bush selbst will auch weiterhin von Verantwortung nichts wissen, wie er bei einem seiner derzeit raren öffentlichen Auftritte kundtat. „Ich bin überzeugt, dass ich nie Geheimdienstberichte gesehen habe, die auf einen bevorstehenden Anschlag auf Amerika hingewiesen haben“, sagte der Präsident am Sonntag. Inwieweit diese Haltung ihm langfristig im Wahlkampf schaden wird, ist derzeit ungewiss. Viele politische Beobachter glauben, die Öffentlichkeit werde ihn am Ende kaum aufgrund möglicher Versäumnisse vor dem 11. September abstrafen. Die Wähler erkennen dies eher als strukturelles Problem einer Gesellschaft, die insgesamt und deren Ermittlungsbehörden im Besonderen nicht auf Terrorismus eingestellt waren.
Vielmehr wird Bush danach beurteilt werden, wie effektiv sein Antiterrorkampf nach dem 11. September war. Umfragen stellen ihm hierbei weiterhin ein gutes Zeugnis aus. Neben dem notwendigen Umbau von FBI und CIA, der Errichtung des Ministeriums für Heimatschutz und den umstrittenen Einschränkungen von Bürgerrechten, drängt sich dabei jedoch immer mehr Amerikanern die Frage auf, ob es ein weiser Schritt bei der Bekämpfung des internationalen Terrors war, in den Irak einzumarschieren. Diese Frage wird mit dem andauernden Guerillakrieg im Irak weiter wie ein alter Kaugummi am Schuh von Bush junior kleben.