: „Politik ist nur noch Technik“
Rainer Forst, 44, Philosoph, Frankfurter Schule, kritisiert den inflationären Gebrauch des Begriffs Gerechtigkeit – und fordert Radikalisierung. ALG II anheben wie die SPD? Hartz IV abschaffen mit der Linkspartei? Das ist bloße Umverteilung. Er stellt die Machtfrage. Sind Sie ein Revolutionär, Herr Forst?
Geboren: 15. August 1964 in Wiesbaden. Lebt in Frankfurt am Main. Verheiratet, zwei Kinder.
Ist: Professor für Politische Theorie und Philosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Kosprecher des Exzellenzclusters „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ an der Frankfurter Universität. Frühere Lehrtätigkeiten in Berlin, New York und Gießen. Zählt zur „dritten Generation“ der von Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse und Max Horkheimer geprägten Frankfurter Schule. Schüler von Jürgen Habermas. Zuletzt erschienen: „Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit“ (2007, Suhrkamp). Weitere Publikationen: „Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs“ (2003, Suhrkamp); „Kontexte der Gerechtigkeit. Politische Philosophie jenseits von Liberalismus und Kommunitarismus“ (1994, Suhrkamp).
Zum Gespräch traf sich Forst mit taz-Redakteur Thilo Knott in seinem 18-Quadratmeter-Büro im 25. Stock des „Turms“ in Frankfurt-Bockenheim, der die Gesellschaftswissenschaften beherbergt. Demnächst Umzug ins Frankfurter Westend. Die Aufzüge des „Turms“ halten nur alle acht Stockwerke.
Interview Thilo Knott
taz: Es gibt Geschlechtergerechtigkeit, Bildungsgerechtigkeit, Chancengerechtigkeit, soziale Gerechtigkeit, Verteilungsgerechtigkeit, Zugangsgerechtigkeit, Teilhabegerechtigkeit, Leistungsgerechtigkeit. Es gibt sogar die gefühlte Gerechtigkeit. Es muss ziemlich ungerecht zugehen hier in Deutschland, wenn wir so viele Gerechtigkeitsbegriffe brauchen. Helfen Sie uns, Herr Forst!
Rainer Forst: Ja, es gibt geradezu eine Inflation von Gerechtigkeitsbegriffen. Sie haben übrigens noch die Generationengerechtigkeit vergessen. Das ist eine meiner Lieblingsgerechtigkeiten.
Warum lachen Sie?
Im Ernst: weil man an der Generationengerechtigkeit – fast hätte ich gesagt: dialektisch – zeigen kann, wie problematisch manchmal solche Begriffe sind.
Warum problematisch?
Niemand wird dem Satz widersprechen wollen, dass wir nachfolgenden Generationen keinen Schuldenberg hinterlassen sollten. Und dann wird nicht selten für Sparprogramme argumentiert, die genau die besonders hart treffen, die weder in dieser noch in der folgenden Generation über ausreichende Mittel zu einem Leben verfügen, das ihnen soziale Chancen eröffnet. Nicht betroffen oder sogar begünstigt sind dann die, die bereits in dieser, mehr noch aber in der nächsten Generation von dem Besitz und der Weitergabe materieller Güter profitieren. Die Annahme, die Generationengerechtigkeit schneide die klassische soziale Gerechtigkeitsfrage innerhalb einer Generation durch, ist irreführend.
Warum irreführend?
Wir erleben doch verstärkt eine Refeudalisierung der Gesellschaft – woran auch die Finanzkrise strukturell gesehen nichts ändern wird. Es wird in dieser und in nächsten Generationen Menschen geben, die Vermögen erwirtschaftet haben, das sie weitergeben können, die Zahlen sind astronomisch, besonders im sozialen Vergleich. Und das bleibt natürlich nicht auf ökonomisches Vermögen beschränkt, sondern bezieht sich auch auf kulturelles Kapital. Aber zugleich gibt es viele Menschen, die von dieser Güterkette weitgehend ausgeschlossen sind. Und zwar hier und jetzt und auch später, wenn nichts geschieht und die Auseinanderentwicklung von Vermögenslagen sich so fortsetzt. Die Gerechtigkeit, das ist wahr, muss auf folgende Generationen blicken – aber nicht als Einheit, sondern mit einem sozialen Tiefenblick, der nicht die sozialen Verwerfungen innerhalb einer Generation übersieht.
Was ist, richtig verstanden, Gerechtigkeit?
Diese Frage macht Philosophen immer etwas verlegen und führt dann zu längeren Ausführungen. Ich mache es kurz: Die Frage der Gerechtigkeit kreist entgegen gängiger Überzeugungen weniger um das, was die Einzelnen an Gütern erhalten, so wichtig das ist, sondern darum, wer sie innerhalb einer Gesellschaft sind – ob sie Normen oder Institutionen unterworfen sind, die von Willkür gekennzeichnet sind. Ungerechtigkeit besteht dort, wo Menschen in sozialen oder politischen Zusammenhängen nicht oder nicht ausreichend zählen und ihre Ansprüche nicht nur verletzt werden, sondern erst gar nicht hörbar sind und anderen Logiken – etwa der des oft beschworenen Marktes – unterworfen werden, die sich rechtfertigungsresistent geben.
Was heißt das für: Gerechtigkeit?
Die gesellschaftlichen und politischen Institutionen, die die Grundstruktur einer Gesellschaft ausmachen, für ihre Mitglieder bindend sind und ihre Lebenschancen bestimmen, müssen ihnen gegenüber angemessen gerechtfertigt werden. Und insbesondere denjenigen gegenüber, die von diesen gesellschaftlichen Institutionen am wenigsten zu profitieren drohen. Die politische Gestaltungskraft darf nur so eingesetzt werden, dass sie nach Prinzipien und Normen funktioniert, die allen gegenüber legitimiert werden können. Jeder also muss ein Recht auf Rechtfertigung haben – und das auch einfordern können. Das ist für mich – kurz gefasst – der politische Kern der Gerechtigkeit.
Machen wir ein bisschen praktische Philosophie?
War Ihnen das zu theoretisch?
Nein. Aber ich gebe Ihnen jetzt ein praktisches Beispiel.
Gerne.
Einfaches Beispiel: Seit 1. Januar 2008 gibt es nicht nur Kindergeld, sondern auch Elterngeld. Eine scheinbar unumstrittene Einführung der großen Koalition. Könnte sich nicht jemand ungerecht behandelt fühlen, der für sich einen anderen Lebensentwurf konzipiert hat als Kinder kriegen und aufziehen?
Ich glaube, dass jedem plausibel gemacht werden kann, dass Kindern die Möglichkeit gegeben werden muss, in einer Umgebung aufzuwachsen, die für sie möglichst produktiv und gut ist – Kinder waren wir ja alle einmal. Und dass Eltern – wohlgemerkt: um der Kinder willen – die Möglichkeit gegeben werden muss, diese Umgebung gestalten zu können und Wahlmöglichkeiten zu haben. Gerade in einer Lebensphase, in der für die verschiedensten Berufe die Weichen gestellt werden. Zudem zeichnet es eine Gesellschaft aus, wenn sie darauf achtet, dass Elternschaft zwischen den Geschlechtern möglichst fair gestaltet werden sollte – und wie das gelingt, ist eine sehr wichtige Debatte, auch in Bezug auf dieses Gesetz. Eine Person aber, die solche Überlegungen beziehungsweise Investitionen ablehnt, würde ich nicht nur an Solidaritätspflichten erinnern, sondern auch daran, dass eine Gesellschaft ohne solche Regelungen ja nicht lebensentwurfsneutral ist, sondern auch – kulturell oder ökonomisch bedingt – bestimmte Lebensentwürfe prämiert. Bis vor kurzem etwa den alleinstehenden Investmentbanker. Zufrieden mit der Rechtfertigung?
Nein, noch nicht. Denn es ist eine moralische Setzung des Staates, dass er gerade dieses Lebensmodell fördert. Wer definiert denn, was ein Dienst an der Gesellschaft ist?
Gewiss. Es ist die Förderung bestimmter gesellschaftlicher Entwicklungen, aber mit gewissen Freiräumen und auch unter Gleichheitsgesichtspunkten, nicht so sehr unter dem Aspekt Dienst an der Gesellschaft. Und allgemein gilt, dass das Steuerungsvermögen einer Gesellschaft überfordert wäre, wenn sie alle Lebenslagen im Endeffekt gleich stellen wollte. Das ist auch keine taugliche Gerechtigkeitsvorstellung.
Nächstes Beispiel: die in linken Kreisen beliebte Reichensteuer zum sozialen Ausgleich. Gerecht oder ungerecht?
Worte wie Reichensteuer halte ich in Debatten zu sozialer Gerechtigkeit für problematisch und verkürzend.
Warum?
Weil das so klingt, als ginge es darum, einigen Reichen etwas wegzunehmen, und dann die leidige Neiddebatte losgeht. Das setzt falsch an. Worum es der Gerechtigkeit geht, ist, Strukturen der Bildung, Ausbildung, Beschäftigung und Entlohnung zu schaffen, die nicht ständig soziale Polaritäten produzieren, die am Ende nach Umverteilung rufen. Dazu ist ein differenziertes und progressives Steuersystem nötig, das aber mit solchen Vokabeln nicht gut beschrieben ist. Ihnen wird dann stets die Leistungsgerechtigkeit entgegengehalten, wobei aber zumeist übersehen wird, dass die Belohnung von Leistung nur dort gerecht sein kann, wo annähernd gleiche Chancen bestehen, etwas zu leisten. Das ist eine strukturelle Kernaufgabe der Gerechtigkeit in einer Gesellschaft, die immer wieder Privilegien reproduziert, wie uns alle sozialen Untersuchungen zeigen.
Dann ist, das wäre das dritte Beispiel, die Einführung von Mindestlöhnen auch zu kurz gesprungen, um die Gerechtigkeitslücke zu schließen?
Auch das ist wieder nur ein Aspekt der Gerechtigkeit, der strukturell eingebettet werden muss. In der Tat, niemand soll für seine Arbeit einen so niedrigen Lohn erhalten, dass er oder sie nicht über die Runden kommt, manche selbst bei einem 12-Stunden-Arbeitstag nicht. Aber die Frage der Gerechtigkeit hängt nicht an der Mindestlohnhöhe, so wichtig das für den, der jeden Cent dreimal umdrehen muss, auch ist.
Sondern?
Daran, zu verhindern, dass eine Gesellschaft solche Zwangslagen überhaupt zulässt beziehungsweise herbeiführt, die dann notdürftig gelindert werden sollen. Die Frage der Gerechtigkeit ist die, wie in einer Gesellschaft insgesamt die Menschen in den Arbeitsmarkt oder die Bildungseinrichtungen hineinsozialisiert werden. Welche Möglichkeiten haben sie, sich in diesen Institutionen zu entfalten und diese auch zu beeinflussen und zu gestalten? Oder erfahren sie nicht vielmehr alles als Faktum, dem sie nahezu willkürlich ausgesetzt sind?
Dann ist in Ihrer Definition von Gerechtigkeit automatisch die Machtfrage der zentrale Kern.
Die Frage nach sozialer Gerechtigkeit ist in der Tat die Frage nach der Macht. Es geht um die Bestimmungsmacht und die Einflussmacht auf die gesellschaftlichen Institutionen, in denen wir leben. Und weil wir vorhin über Löhne geredet haben, könnte die Machtfrage auch so formuliert werden: Es geht nicht nur darum, welche Güter aus welchen Gründen in welchem Maße an wen legitimerweise verteilt werden. Es geht insbesondere darum, wie diese Güter zuallererst in die Welt kommen sowie wer über die Verteilung bestimmt und wie sie vorgenommen wird. Diese Dimension wird allzu häufig übersehen, und in der Philosophie ist es da wie im Leben auch: Die Frage nach der Autorität, die über Verteilungen entscheidet, wird oft durch das in der Philosophie beliebte Beispiel der Mutter, die an ihre Kinder einen Kuchen verteilt, schon als beantwortet angenommen. Wer stellte schon Mütter in Frage? Aber die Gerechtigkeitsfrage ist die Mutterfrage: Wer hat Verteilungsautorität in Bezug auf was und wem gegenüber?
Wenn die SPD noch unter Kurt Beck das Arbeitslosengeld II erhöht, wenn die Linkspartei die Rücknahme von Hartz IV fordert, dann sind sie nicht gerechtere Parteien? Sondern sie sind machtvergessen, weil sie den ganzen Rahmen der Gerechtigkeit vernachlässigen?
Nun, von der Frage einmal abgesehen, welche Autorität Anwälte der Gerechtigkeit haben können, die von der Hypothek eines Unrechtsregimes nicht frei sind, ist der Erfolg solch einer Partei, egal ob man ihr politisches Programm für überzeugend hält, schon ein Gradmesser dafür, dass der gesellschaftliche Diskurs dahin geht, dass etwa die Parteien die Sozialreformen bilanzieren und die Lage der Betroffenen neu bewerten müssen. Diese müssen politische Fürsprecher haben. Im Moment ist diese Sorge von der Finanzkrise überlagert, aber in Zeiten der Rezession wird die Notwendigkeit, über weitere Reformen zugunsten der Bezieher niedriger Einkommen nachzudenken, nicht abnehmen.
Aber die Parteien stellen doch nicht die Machtfrage, wie Sie sich das gerne wünschen. Es geht doch um bloße Umverteilungsfragen – egal ob bei der Diskussion um die Reichensteuer oder der Anhebung von ALG II – und nicht um Machtfragen.
Niemand sollte die Bedeutung der Erhöhung von sozialen Grundleistungen kleinreden. Aber häufig werden die wirklichen Gerechtigkeitsdebatten umgeleitet auf technisch-politische Debatten, die Warenkörbe bewerten. Gut, wenn man sich ein ordentliches Schulbrot leisten kann, aber man muss auch über die ordentliche Schule reden und die Bedingungen, dort zu reüssieren.
Eine verkürzte Vorstellung von Gerechtigkeit?
Ja, und darin besteht die Gefahr, dass Verteilungsgerechtigkeit auf Umverteilung und schließlich Minimalversorgung reduziert wird. Da sind wir bei der SPD mit der Erhöhung von ALG II. Eine Erhöhung ist richtig, und doch wird Politik und Gerechtigkeit, wenn man nur darauf schaut, auf Technik reduziert. Auf sozialpolitische Technik. Man muss hingegen sehen, dass die Betroffenen, etwa Hartz-IV-Empfänger, immer weniger Chancen haben, das gesellschaftlich-politische System mitzubestimmen, sich als auch nur annähernd gleichberechtigte BürgerInnen zu begreifen.
Aber ist es nicht so, dass diejenigen, die in der Gesellschaft am schlechtesten gestellt sind, zur Sprachlosigkeit verdammt werden, weil sie komplett ausgeschlossen sind, wie das der Hamburger Soziologe Heinz Bude jüngst in seinem Buch „Die Ausgeschlossenen“ erklärte. Und dass wir uns erst mal wieder kümmern müssen, dass diese wieder teilhaben können, bevor wir die Rede von der gerechten Gesellschaft schwingen?
Das trifft schon einen Punkt: Die Schlechtestgestellten, wie John Rawls das ausdrückt, um die es bei der Gerechtigkeit insbesondere geht, sind häufig zur Sprachlosigkeit verdammt. Sie werden einsortiert anhand von Begriffen wie Abhängigkeitskultur oder Bildungsarmut und dabei nicht nur sprachlich ausgeschlossen, sondern zur sozialpolitischen Objektmasse.
Aber?
Ich stimme dem geschätzten Kollegen Bude nicht ganz zu, wenn er erklärt, wir sollten unsere Träume von einer gerechten Gesellschaft zunächst einmal zurückstellen und uns auf andere Prioritäten der Sozialpolitik konzentrieren – also insbesondere der Inklusion.
Wäre das nicht ein pragmatischer Weg, mit den sozialen Problemen umzugehen?
Ich will das alles nicht in Bausch und Bogen verdammen. Aber wir müssen uns vor einseitig empfängerzentrierten Perspektiven hüten.
In welchem Sinne einseitig empfängerzentriert?
Weil primär die Frage gestellt wird: Was kann ich den Schlechtestgestellten geben beziehungsweise ihnen helfen, aus ihrer kulturellen Situation herauszukommen?
Und das soll keine berechtigte Frage sein?
Da besteht erstens die Gefahr, dass Gerechtigkeit – was wir anderen schulden – in Vokabeln der Anteilnahme für die sogenannten Schwachen transformiert wird und schließlich zur Barmherzigkeit mutiert, auf die man keinen Anspruch hat. Dann treten gelegentlich die, die von einer Gesellschaft der Privilegien profitieren, als Helfer in der Not auf. Zweitens heißt das, dass der Sozialstaat quasi als Ausfallbürge die verhängnisvollen Auswirkungen versagender Märkte oder des Bildungssystems nur kompensiert. Er bedient dann lediglich gewisse Grundbedürfnisse. Dabei aber werden die Strukturen hingenommen, die erst zu Ungleichverteilung und zu Macht- oder Sprachlosigkeit führen. Die Frage der Gerechtigkeit darf man nicht aufgeben und durch das Ziel der sozialen Inklusion ersetzen. Dies zeigt die derzeitige Krise deutlich, in der wir nun gezwungen sind, strukturell zu denken.
Dann sind Sie letztlich ein Träumer? Oder gar ein Revolutionär, der die bestehenden Verhältnisse überwinden will?
Weder noch. Aber ich plädiere schon dafür, die Radikalität des Gerechtigkeitsbegriffs wahrzunehmen. Die zentrale Aufgabe des politischen Systems ist es, soziale Gerechtigkeit herzustellen – und dabei geht es darum, die Rechtfertigungen für bestehende Strukturen kritisch zu betrachten und gegebenenfalls nach besseren Legitimationen zu fragen. Und dies wiederum muss durch die Betroffenen selbst geschehen, denn die Gerechtigkeit ist kein Geschenk von irgendwo her, sondern eine Errungenschaft. Das ist eine Aufgabe für unser politisches System. Und für uns alle. Politik sollte den Raum der Rechtfertigungen eröffnen, besonders dann, wenn er durch verkürzte Vorstellungen davon, was recht und gerecht ist, verstellt wird. Es gibt immer auch Zeiten der Öffnung. Sehen wir mal, was kommt.