hamburger szene : Die Händler im Tempel
Es war Nacht und die Johannis-Kirche rot-grün angestrahlt. Es ist ein alter Backsteinbau und ich dachte, dass das Licht eine nette Weihnachtsidee sei und fuhr näher heran. Aus dem Innenraum kam laute Discomusik und man sah dieses gleißende, weiße Licht, in dem die Tänzer so aussehen, als bewegten sie sich in Zeitlupe.
Links auf der Schwelle saß ein Obdachloser. Er hatte ein schmales Gesicht, so scharf geschnitten wie die Figuren der Maler im späten Mittelalter. Ja, er sah aus wie Josef auf einem Altarbild von Matthias Grünewald. „Es ist eine Party von Barclay“, sagte er, und ich erinnerte mich daran, dass meine eigene Zeitung darüber geschrieben hatte: Dass ein Verein die Johanniskirche vermiete, weil das Geld knapp sei. Und dass nicht jeder froh sei über das Ergebnis.
Der Obdachlose sagte, dass Jesus damals die Händler aus dem Tempel vertrieben habe, zwischenzeitlich kam eine der Barclay-Geladenen in einem knappen Abendkleid aus der Kirche und umarmte von hinten einen desinteressierten Mann. Ich fragte den Obdachlosen, wo er schlafe, ob er zu einem dieser öffentlichen Schlafplätze ginge. Er sagte, dass er auf einen Bekannten warte, der gegenüber wohne, aber bislang noch nicht aufgetaucht sei.
Eigentlich, sagte der Obdachlose dann, sei es eine gute Sache, sich einfach mit einem Tagesfahrschein in die U-Bahn zu setzen und dort zu schlafen. Ich dachte an eine Freundin, die einen Obdachlosen zu sich zum Duschen eingeladen hatte. Sie tat es über Monate, dann nicht mehr, aber ich habe vergessen, warum sie damit aufhörte.
Es war kurz vor Weihnachten und die Frage nach dem Herberge-Geben sehr akut, könnte man sagen. Ich gab dem Obdachlosen keine Herberge, ich gab ihm nur fünf Euro. Für die Tagesfahrkarte. „Gott“, sagte er, „schütze Sie.“ FRIEDERIKE GRÄFF