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Archiv-Artikel

Empire im Wespennest

Im Orient nichts Neues? Mit der Beseitigung Saddam Husseins stehen die USA als militärische Supermacht mitten in der arabischen Welt. Damit wächst auch der Hass auf Amerika in der gesamten Region. Wie Bush den Krieg doch noch gewinnen kann, wird der Friedensplan für Israel und Palästina zeigen

In der neuen Ära ist der Meister der Welt vom internationalen Recht befreit

von SÉLIM NASSIB

Einen Monat nach dem Ende der Kämpfe, scheint der Irak nicht – so wie viele vorausgesagt haben – von einem Bürgerkrieg bedroht zu sein, und die Schockwelle hat auch keine Apokalypse in den arabischen und muslimischen Ländern provoziert. Allen Kassandrarufen zum Trotz kann Präsident Bush Sieg rufen: Er hat seinen Krieg geführt, so wie er wollte, und er hat ihn gewonnen.

Donald Rumsfeld hat den Fall des irakischen Regimes mit dem der Berliner Mauer verglichen. In der irrigen Vorstellung des amerikanischen Ministers war dieses gleichbedeutend damit, dass dieser Zusammenbruch Stück für Stück das Umschwenken der arabischen Welt in das Feld der Demokratie und Modernität zeigte. Das Mindeste, was man sagen kann, ist, dass das nicht passiert ist. Von außen mit Gewehrläufen auferlegt, ist die „Befreiung“ im Großen und Ganzen wie eine Aggression erlebt worden. Als die Soldaten vergaßen, das Museum in Bagdad zu schützen, gleichzeitig aber eine Wache vor dem Ölministerium postierten, haben Iraker und Araber darin ein Versäumnis gesehen, das die Hintergedanken und die wahren Prioritäten des Besetzers verriete. Das Gleiche gilt für die Wiederherstellung der Sicherheit, die Wiedereinsetzung der Verwaltung und die Erennung einer irakischen Interimsregierung.

Bei allen diesen Fragen war die Unvorbereitetheit so deutlich, dass sie zur Botschaft wurde. Ständige Nachbesserungen haben den Eindruck erweckt, dass die Amerikaner an dieses Problem einfach nicht gedacht haben. Als sie freie Wahlen versprachen (auch wenn die islamischen Schiiten sie gewinnen?) oder die Rückgabe des irakischen Öls an die Iraker (eine amerikanischen Gesellschaft hat bereits das „Recht“ erworben, es zu vermarkten), glaubte ihnen schon keiner mehr.

Dieses Misstrauen summiert sich mit unzähligen anderen. Die Mehrheit der Araber räumt ein, dass der Sturz der Diktatur an sich eine gute Sache ist. Sie lieben die Freiheit, denn davon haben sie niemals gekostet. Doch in der Art, wie Bush handelt, zwingt der amerikanische Präsident sie in ein Gefühl der Erniedrigung, der Verbitterung und wiederkehrenden Wut, die der Kern ihres Vorstellungssystems sind, ja die Krankheit, die ihnen den Zugang zur Welt vesperrt.

George Bush hat noch eine Chance, das Steuer herumzureißen. Indem er sich des Palästinaproblems annimmt und es löst. Der Präsident hat diese Lösung formuliert und dafür persönlich Verantwortung übernommen: Das übermächtige Amerika setzt die Road-Map durch, die einen internationalen Konsens ausdrückt. Israel und Palästina werden friedlich Seite an Seite leben, ein unabhängiger und lebensfähiger palästinensischer Staat wird bis 2005 das Licht der Welt erblicken! Niemals hatte ein US-Präsident bessere Ausgangsbedingungen: Bushs Truppen sind in der Region; die Bedrohung, die Saddam darstellte, ist beseitigt; die Israelis sind müde, die arabischen Regimes und die palästinensischen Autoritäten sind in einer verzweifelten Lage. Die historische Gelegenheit lässt sich auch am veränderten Vokabular Ariel Scharons ablesen. Indem er mit „Besetzung“ Aktivitäten bezeichnet, die er sein ganzes Leben als „natürliche Rückkehr der Juden in ihr Land Erez-Israel“ betrachtet hat, leitet er eine ideologische Abkehr ein – die 65 Prozent seiner Landsleute zu begrüßen scheinen.

Um im Rennen zu bleiben, haben die palästinensischen Autoriäten getan, was von ihnen verlangt wurde. Sie haben die Road-Map bedingungslos akzeptiert, Jassir Arafat kaltgestellt, Abu Masen zum Premierminister ernannt, den Terrorismus verurteilt und versprochen, die Intifada zu entwaffnen … Indem sie ihren Teil des Deals erfüllt haben, erwarten sie, dass die Vereinigten Staaten Israel dazu bringen, seinen Teil zu erfüllen. Nach vielen Ausflüchten hat Scharon die Road-Map von seinem Kabinett beschließen lassen, aber er hat zu diesem Thema 14 auch „Anmerkungen“ unterbreitet, die Bush berücksichtigen will. Für die Araber steckt der Teufel verständlicherweise in diesen „Anmerkungen“. Was können sie tun? Trotz des Eindrucks eines Déjà-vu werden sie aufmerksam das Wiederaufleben des neuen „Friedensprozesses“ verfolgen. Sie wären gern überrascht, aber sie wagen nicht mehr zu hoffen. Im Moment haben sie das Gefühl, dass dieselben Betrügereien und derselbe Groll sie bei der Ankunft erwarten. Im Orient nichts Neues.

Doch das Neue ist da: mit einem Amerika, das in den Straßen Bagdads patroulliert, ohne wirklich zu realisieren, in welches Wespennest es gestochen hat. Es ist so mächtig geworden, dass die Fakten, die es geschaffen hat, die „neue Realität“ darstellen, mit der sich jeder auseinander setzen muss. Gefolgt von einer überwältigenden Mehrheit von Nationen, lag Chirac zweifellos richtig, als er für die Einhaltung des internationalen Rechts kämpfte. Aber was heißt schon „im Recht gewesen sein“ angesichts einer Situation, die der Vergangenheit angehört?

Heute ist es am französischen Präsidenten, darum zu betteln, dass Frankreich nicht allzu sehr bestraft wird, weil es gewagt hat, sich dem Gesetz des Stärksten zu widersetzen. Und wenn Bush es mit dem Verzeihen nicht eilig hat, dann deshalb, weil er mit Jacques Chirac den idealen Sündenbock gefunden hat, um der ganzen Welt eine Lektion zu erteilen. Diese Lektion lautet: In der neuen Ära, die die Attentate des 11. September eröffnet haben, ist der Meister der Welt vom internationalen Recht befreit und ermächtigt sich, einen Krieg zu führen, wenn er es für nötig erachtet. Zum Recht wird er zurückkehren, wenn er es zu können glaubt. Derzeit herrscht Ausnahmezustand.

Um seine Autorität zu begründen, hat es Bushs Imperium weniger nötig, die Demokratie zu befördern (siehe Afghanistan) als vielmehr über eine Reihe von Militärbasen zu verfügen, die sich in einem günstigen Umfeld befinden und strategische Regionen des Globus abdecken. Die Natur der Regimes interessiert Washington nicht wirklich, es fordert von den Gastländern bloß Sicherheit und die Fähigkeit, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Abu Masen (oder sein Nachfolger) wird an dem Tag Mitglied im Club werden, an dem er den palästinensischen Islamismus zerschlagen haben wird – mit oder ohne Gegenleistung für sein Volk. Saudi-Arabien war unangreifbar bis zu dem Tag, an dem die Aufrufe Ussama Bin Ladens, die amerikanischen Truppen zu verteiben, dort auf großen Widerhall stießen. In gewisser Weise war der Krieg gegen den Irak ein Krieg gegen Saudi-Arabien. Bush hat angekündigt, dass seine Soldaten bald diese heilige Erde verlassen werden, und dass er sie jetzt nach nebenan schicken kann. Er verlegt sie aus einem Land, das weltweit die größten Erdölvorkommen besitzt, in ein Nachbarland, das er erobert hat und das die zweitgrößten Erdölvorkommen besitzt. Das sind seine Interessen und Ziele. Er verfolgt sie mit Bestimmtheit und Beharrlichkeit, wie ein Mann vor seinem Welt-Kampffeld. Er spricht nie darüber, aber sein Verhalten beweist das Tag für Tag. Im Gegensatz dazu hat man, wann immer er über die noblen und generösen Ziele spricht, den Eindruck, es handle sich um heiße Luft.

Doch die Tatsache, dass ihm nicht geglaubt wird, ist ein großes Handicap. Bush hat bereits bemerkt, dass er, um den Wiederaufbau des Irak zu finanzieren, die internationale Gemeinschaft braucht, und diese hat sich völlig bereitwillig überzeugen lassen. Wie aber wird er die arabische und muslimische Öffentlichkeit gewinnen? Was wird er tun, wenn das saudi-arabische Regime unter dem Druck einer islamistischen, antiamerikanischen Opposition zusammenbrechen, wenn das Pakistan Musharrafs sich ihm entwinden oder der Volkszorn die palästinensischen Autoritäten zugunsten der Hamas oder des Islamischen Dschihad hinwegfegen würde?

Obwohl er gezeigt hat, dass niemand in der Welt in der Position ist, ihm zu widersprechen, entdeckt George Bush doch heute, dass seine dominante Position nicht zwangsläufig alle Probleme löst. Während UNO, Europa, Frankreich, Russland, China, die internationale Anti-Kriegs-Bewegung, die arabische und muslimsche Welt, der Papst und der Dalai Lama derzeit machtlos sind, so ist der einzige, der noch in der Lage scheint, dem Imperium etwas Böses anzutun – Ussama Bin Laden. Von Saudi-Arabien über Jemen bis nach Marokko scheint die nebulöse terroristische Feindorganisation Nummer eins keine Schwieirgkeiten zu haben, Arme oder Körper zu finden, die bereit zur Explosion sind. Die schweren Schläge, die sie einstecken musste, haben sie noch weitverzweigter werden lassen. Sie wird Inspirationsquelle, zum Selbstmordgrund, ein Beispiel, dem lokale Gruppen folgen, ohne je Kontakt zu ihr gehabt zu haben. Wie sollen junge Araber, die voller Bitterkeit sind und unfähig, sich ihre Integration in der Welt vorzustellen, nicht anfällig für die selbstmörderische-paradiesische Rhetorik des militanten Islamismus sein? Vielleicht werden das Imperium und die aktuellen Regimes sie genug unterdrücken, um sie auch weiter zu marginalisieren. Doch in welcher allgemeinen Atmosphäre und mit welchen vorherrschenden Gefühlen? Die Hassliebe, die die arabische Welt dem Westen entgegenbringt, droht sich in puren Hass zu verwandeln. Es sei denn, das Palästina-Dossier würde zu einem Wunder.

Übersetzung: Barbara Oertel