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Archiv-Artikel

Pascal Beucker über die multikulturelle Oase Chorweiler

Plattenbau à la Frank O.Gehry

Freizügig, individuell, einzigartig. Nichts erinnert mehr an das standardisierte Wohnen im Chorweiler von einst, an die trostlose Anonymität in den grauen Betonburgen. Das gigantische letzte Werk von Stararchitekt Frank O. Gehry ist fertig. Im Kölner Norden ziehen die ersten Mieter in die Heinrich-Böll-Siedlung ein. Das Leben pulsiert wieder

Vor noch nicht allzu langer Zeit hätte es sich niemand vorstellen können: Es gibt wieder Leben im Kölner Norden. Wo vor ein paar Jahren nur Bauruinen als traurige Zeugen einer städtebaulichen Katastrophe übrig geblieben waren, spielen wieder Kinder, begegnen sich wieder Menschen auf der Straße und beginnen ein Gespräch. Dort, wo unlängst noch Ödnis herrschte, ist etwas Neues auferstanden aus Ruinen: die „Heinrich-Böll-Siedlung“ – eine multikulturelle Oase, deren Bewohner sich wohl zu fühlen scheinen.

Dabei hatten sich die Kölner die Entwürfe des Stararchitekten Frank O. Gehry zunächst nur skeptisch angesehen: Dreißig „krumme Häuser“ ausgerechnet dort, wo einst die „Neue Stadt“ stand, jenes architektonische Verbrechen, das als „Chorweiler“ in die Kölner Annalen eingegangen ist? Ob das gut gehen kann?

Vorbild Zollhof

Dass der legendäre US-Amerikaner seiner Schwäche für kühne Konstruktionen auch in Köln freien Lauf lassen würde, war so überraschend allerdings nicht – er ist bekannt für Entwürfe, die böse Zungen „Baucollagen in Trümmerästhetik“ nennen und damit Gebäude wie das Baseler Vitra Design Museum oder das titanverkleidete Guggenheim-Museum in Bilbao meinen.

Oder den Neuen Zollhof in Düsseldorf. Das vor dreißig Jahren erbaute Ensemble aus drei Bürogebäuden im „Medienhafen“, die aussehen, als wären sie mitten in einer Bewegung erstarrt, wirkt wie ein kleiner Prototyp der Heinrich-Böll-Siedlung. Es bezieht seinen Charme aus dem dreifachen Spiel der Gegensätze. Wie auch in Köln unterscheiden sich die einzelnen Teile in Form und Fassade grundsätzlich: Der kantige Bau mit hermetischer Backsteinfront wird konterkariert durch einen mittleren Bau, dessen gewellte Edelstahlhülle die Umgebung reflektiert. Gelassen überragt das Ganze ein weiß verputzter Bau mit voluminösen Rundungen.

Tatsächlich diente der „neue Zollhof“ als Vorbild für die Rekultivierung des früheren Chorweiler. Und nicht nur das: Ohne den Düsseldorfer Gebäudekomplex wären die Kölner Neubauten gar nicht denkbar gewesen. Denn Gehry hatte damals eine kleine bautechnische Revolution zustande gebracht: Erstmals war es gelungen, stark gekrümmte Freiformflächen unmittelbar in Fertigbauteilen nachzubilden. Mit dem damals neuen technischen Verfahren hatte er bis dahin unbekannte Wege aufgetan, Bauten unabhängig von ihrer Gestalt im Fertigbau zu realisieren. Hierdurch demonstrierte der Kalifornier ausgerechnet in Düsseldorf, dass seine exaltierten Formen auch für wenig Geld in Plattenbauweise zu haben sind.

Für Philip Johnson, den Altmeister der amerikanischen Architektur, hatte der Zollhof denn auch das Zeug, die Büchse der Pandora zu öffnen: „Jetzt weiß jeder, dass es geht!“ Vor allem der im vergangenen Jahr im Alter von 99 Jahren inzwischen verstorbene Gehry selbst. Trotzdem dauerte es noch drei Jahrzehnte, bis er sich kurz vor seinem Tod mit seinem letzten Projekt nun ein beinahe schon gigantomanisches Denkmal setzte: Denn die Heinrich-Böll-Siedlung ist der Neue Zollhof mal zehn!

Hier, rund um den Pariser Platz, erinnert heute nichts mehr an die Trostlosigkeit der vergangenen Jahrzehnte. Nicht einmal mehr der Name des Stadtteils. Nachdem der Strukturwandel im linksrheinischen Norden Erfolge zeitigt, gerät in Vergessenheit, dass es sich bei diesem Gebiet noch bis vor kurzem um einen urbanistischen Notfall handelte. Lange schaute man einfach nicht hin, überließ die größte hochgeschossige Neubausiedlung des damaligen Nordrhein-Westfalen sich selbst – und dem Verfall.

Dabei hatte hier doch ursprünglich alles besser sein sollen. Damals, nach dem Zweiten Weltkrieg, als Stadtplaner überall in der Bundesrepublik die Gelegenheit bekamen, Städte komplett neu zu konzipieren. Wohnraum wurde dringend gebraucht, und die Planer konnten entwerfen, was sie für die „Stadt der Zukunft“ hielten. Das Problem war nur: Zu dieser Zeit verstand man Urbanität noch als Kreuzung zweier Straßen mit einem dahingeworfenen Neubau der Kreissparkasse. Das traurige Ergebnis: Überall in der Republik entstanden unwirtliche Trabantenstädte. Anfangs noch als moderne Errungenschaften gefeiert, dauerte es nicht lange, bis sie sich als schreckliche Fehlplanungen herausstellten. Ein Paradebeispiel für eine solche Karriere war Chorweiler.

1957 wurde das Projekt „Neue Stadt“ im Rat der Stadt beschlossen. 13 Kilometer von der Innenstadt entfernt sollten in der Neuen Stadt, wie sie hieß, bevor man sich auf den Namen „Chorweiler“ – eine Bezeichnung, die aus der alten Ortsbezeichnung Weiler und dem vorhandenen Waldstück Chorbusch zusammengesetzt worden war – einigte, Wohnraum für 100.000 Menschen geschaffen werden. Die Planer sahen in der Neuen Stadt die Gelegenheit, vermeintliche Fehler der Vergangenheit zu vermeiden. Die großen Städte waren bis dahin, so schien es ihnen, planlos gewuchert, unzusammenhängend und ungegliedert. In Chorweiler sollte alles anders werden: überlegte Verkehrsführung, systematische Aufteilung in ein Schlafviertel, ein Behörden- und Einkaufsviertel und ein Industrieviertel.

Folge: Anonymität

Dabei folgten die Architekten der Nachkriegsmoderne dem gleichmacherischen Schlachtruf von Walter Gropius: „Die Mehrheit der Bewohner hat gleichartige Lebensbedürfnisse“, hatte der Architekt des Dessauer Bauhauses, der 1957 an der Erbauung des Berliner Hansaviertels beteiligt war, schon 1927 geschrieben. Daher liege es „im Sinne eines wirtschaftlichen Vorgehens, diese gleichartigen Massenbedürfnisse einheitlich und gleichartig zu befriedigen“. Es sei „also nicht gerechtfertigt, dass jedes Haus einen anderen Grundriss, eine andere Außenform, andere Baustoffe und einen anderen ‚Stil‘ aufweist.“

Welch ein Irrtum! Schon die ersten Bewohner Chorweilers machten inmitten von Baustellen Bekanntschaft mit ungeplanten Nebenwirkungen. Die Anonymität der Trabantenstadt war ein zuvor ungekanntes Problem. In den gewachsenen Vierteln der Innenstadt waren soziale Bindungen über lange Zeit gewachsen. In der Neuen Stadt aber waren alle Bewohner neu, zusammengewürfelt, hatten keine gemeinsamen Traditionen und blieben sich fremd. Hinzu kamen Lärm und Luftverschmutzung durch die doch so gut gemeinte Nähe des Industrieviertels nebenan. Bereits Mitte der Achtzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts gab es eigentlich nur noch einen Weg: Der Abriss des gesamten Komplexes schien die angemessene Lösung zu sein.

Doch stattdessen versuchten die Stadtoberen, mit massiven Investitionen über die Krise hinwegzuhelfen. Eine Straße wurde abgerissen, große Teile des Zentrums wurden umgebaut. Sozialarbeiter und Bewohnerinitiativen versuchten mit vereinten Kräften, ein Viertel zu erhalten, in dem sie nicht wegen, sondern trotz der ursprünglichen Ideen leben wollten.

Alles vergeblich. Das Viertel starb langsam aus. Nachdem in den 2010er-Jahren die Mieten in anderen Kölner Stadtbezirken drastisch gefallen waren, flohen die Menschen beinahe fluchtartig vor ihrer sozialen Stigmatisierung und vor allem vor den unwirtlichen Wohnburgen Chorweilers. Zurück blieben menschenleere Betonruinen als überdimensionale Mahnmahle menschenfeindlicher Bauplanungen der Vergangenheit.

Und dann kam Frank O. Gehry. Alles begann am zweiten Weihnachtsfeiertag 2023 mit dem Besuch eines einfachen Kölner Restaurants, einem ausgezeichneten Himmel und Äd und der anschließenden Skizze des Stararchitekten auf einer Serviette. „Frank, do it“, habe er damals zu Gehry gesagt, berichtet Jochen Ott. Es war ein Geniestreich des Kölner Oberbürgermeisters: Die Idee zur Heinrich-Böll-Siedlung war geboren. Trotz nicht geringer Widerstände im Kölner Rat besonders der Konservativen wurde schon ein Jahr später mit dem Abriss der Ruinenlandschaft begonnen.

In dieser Woche wurde der letzte der dreißig Bauten fertig gestellt. Der Stadtteil beginnt wieder zu leben. Bereits vor Jahren haben sich viele Menschen um eine Wohnung beworben, nun ziehen sie in den neuen Stadtteil – in äußerst geräumige Drei- bis Siebenraumwohnungen; in Häuser, die so sind wie sie: nicht genormt, individuell, einzigartig. Und scheinbar immer in Bewegung.