: Verzichtsrhetorik à la H.-O. Henkel
betr.: „Lobbyismus oder Gerechtigkeit?“, taz vom 2. 6. 03
Natürlich ist es „unfair“, wenn von den Drittweltländern eine Öffnung ihrer Märkte verlangt wird, gleichzeitig aber unsere Märkte vor deren Waren und Dienstleistungen verschlossen bleiben. Die Frage von Katharina Koufen: „Wollen wir unseren hohen Lebensstandard in Europa verteidigen – oder wollen wir eine stärkere Verteilung der weltweiten Einkommen zwischen Nord und Süd zugunsten des Südens ?“ stellt sich allerdings so überhaupt nicht.
Wenn die Produktivität, das Wissen, weltweit zunimmt, wenn also immer weniger Leute immer mehr Waren und Dienstleistungen herstellen können, wieso zum Teufel sollte dann bei irgendjemand der Lebensstandard sinken? Es ist doch gerade die widersinnige, ja absurde Argumentation der Marktliberalen, dass sämtliche Wirtschaftsabläufe durch die Globalisierung zwangsläufig immer effektiver würden, gleichzeitig alle aber irgendwie den Gürtel dauernd enger schnallen müssten.
Wenn der Wohlstand der übergroßen Mehrheit der Weltbevölkerung trotzdem nicht organisierbar erscheint, so ist genau dies Ausdruck der selbstreferenziellen Irrationalität des neoliberalen Projekts, in dessen betriebswirtschaftlichem Kalkül der Wert ganzer Volkswirtschaften am Gewinn der „Investoren“ gemessen wird. Ob die Mitglieder dieser Volkswirtschaften dabei verhungern, spielt bei der Wertzumessung keine Rolle.
Man muss sich hüten vor einer Verzichtsrhetorik à la Hans-Olaf Henkel oder Oswald Metzger, derzufolge wir „über unsere Verhältnisse“ lebten etc. Eine (globale) Volkswirtschaft kann nicht in Geld sparen (Flassbeck). Sie kann auch nicht über ihre Verhältnisse leben. Was und wie sie produziert und wie es verteilt wird, sind die Verhältnisse. Wir leben nicht über unsere Verhältnisse. Wir leben unter unseren Möglichkeiten.
RAINER WAGENER, Heidelberg
Frau Koufen hält es für puren Eigennutz, dass die Gewerkschaften sich gegen Lohn- und Sozialdumping von Dienstleistungsanbietern aus der Dritten Welt zur Wehr setzen (im Rahmen der Gatt-Verhandlungen). Gerechtigkeit würde dagegen hergestellt, wenn die ausländischen Arbeiter in Deutschland die hier bestehenden Löhne und Sozialstandards unterbieten könnten, um so etwas „Wohlstand umverteilen“ zu können.
Dieses Argument haben die Kapitalisten schon immer gegen die Gewerkschaften und ihren Kampf für Kollektivverträge vorgebracht: Es sei ungerecht, dass die Gewerkschaften verhindern, dass sich Arbeitslose für niedrigeren Lohn anbieten, als die Beschäftigten erhalten. Natürlich ist es gerecht, wenn in Deutschland für gleiche Arbeit gleicher Lohn gezahlt wird! Den Arbeitern in der Dritten Welt ist geholfen, wenn hier minimale Sozialstandards als Voraussetzung für den Marktzugang ihrer Produkte verlangt werden. Wettbewerbsfähig können ihre Produkte trotzdem sein, solange der Lohnabstand zu hiesigen Löhnen noch größer als der Produktivitätsabstand ist. Der Wettbewerbsdruck geht hier oft mehr von der Konkurrenz zwischen den Dritte-Welt-Produzenten aus. Mehr „Weltgerechtigkeit“ herzustellen heißt, die Arbeiter der Dritten Welt in ihrem Kampf für höhere Löhne und Verbesserung der Sozialstandards zu unterstützen.
ULRICH MEMMLER, Dörsdorf