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Archiv-Artikel

Die Staatsmacht reicht nicht weit

Von den Plänen des Präsidenten, die Warlords zu entwaffnen, hält Polizeichef Gul nichts: „Das ist der Wille Karsais, aber wollen das auch seine Minister?“

aus Gardes BERNARD IMHASLY

Die Provinz Pakhtia im Südosten Afghanistans muss ein Paradies von Recht und Ordnung sein. Statt einer Sollstärke von 2.000 Polizeibeamten begnügt sich der neue Polizeichef Hai Gul mit 150 Mann – und sie sind nicht einmal bewaffnet. Im Gefängnis von Gardes, dem Hauptort der Provinz, sitzen keine Häftlinge. „Heute früh hatten wir noch zwei“, sagt Hai Gul, „aber sie sind vormittags entlassen worden.“

Dabei sind die modernen Polizeimethoden nicht das Ergebnis des neuen Besens, mit dem Gul kehrt, seit er vor vier Tagen sein Amt angetreten hat – die Voraussetzungen brachte er mit: Gul ist auf der Polizeiakademie in Kairo ausgebildet worden, er ist seit 32 Jahre im Amt, Berater des neuen Innenministers in Kabul und Dozent an der Polizeiakademie der Hauptstadt.

Die unkonventionellen Verhältnisse in Gardes gehorchen indes nicht der freiwilligen Entscheidung Guls, sondern der Not. Zwei Monate musste Gul warten, bis er sein Amt antreten konnte. Sein Vorgänger, Abdullah Mudschahid, weigerte sich, seine Versetzung nach Kabul hinzunehmen. Schließlich zog Gul ins örtliche Hotel und begann von dort, Instruktionen zu erteilen. Als Abdullah schließlich abzog, nahm er einen großen Teil des Polizeikorps gleich mit. Es waren ohnehin seine Leute, Milizionäre aus der Zeit, als Abdullah, wie sein Name sagt, ein Mudschahid war. Er, und nicht Kabul, hatte sie besoldet, wenn auch ein großer Teil der Monatsgehälter aus mehr oder minder freiwilligen Beiträgen der Händler unten im Basar kamen.

Abdullahs Polizisten räumten auch das Arsenal der Polizeikaserne leer, einer trutzigen Festung mit vier breiten Ecktürmen und Lehmmauern, die von einem Hügel auf das staubige Städtchen blickt. „Ich musste mir in Kabul fünf Kalaschnikows ausleihen, um wenigstens meine Leibgarde bewaffnen zu können“, sagt Gul mit einem bitteren Lachen. Auf diese ist er angewiesen, denn inzwischen ist sein Vorgänger wieder in der Stadt.

Auch die leeren Gefängniszellen entlang des Innenhofs der Polizeikaserne sind kein Experiment mit offenem Vollzug. In der Nacht zuvor haben zwei Motorradfahrer in einem Dorf außerhalb von Gardes einen Passanten erschossen. Sie wurden gefasst und hinter Schloss und Riegel gebracht. Die Kaserne von Gardes ist nicht der höchste Aussichtspunkt des Städtchens. Sie wird noch überragt vom Festungshügel des alten „Bala Hissar“-Forts am östlichen Ende der Stadt. Gul musste rasch zur Kenntnis nehmen, dass er dem Burgherrn dort oben nicht nur geografisch untergeordnet ist. General Siauddin, Chef der 12. Brigade der afghanischen Nationalarmee, ließ ausrichten, die beiden Killer seien umgehend freizulassen – was die Gefängnisbeamten dann taten, „ohne mich zu informieren“, wie Gul grimmig hinzufügt.

Siauddin, Gul und vor ihm Abdullah sind nicht die einzigen Kommandanten der Provinz Pakhtia. Da sind noch Momin Maleksai, seines Zeichens Kommandant der 24. Grenzbrigade, und Matin Ahmadsai, Befehlshaber der 15. „mechanisierten Brigade“. Beide lassen sich mit „General“ ansprechen, aber sie sind es mit etwa derselben Berechtigung, wie Matins 200 Freischärler und ihre neun Panzer ein mechanisierter Verband sind. Schließlich ist noch ihr Chef dazuzuzählen: General Atiqullah Lodin, Oberbefehlshaber des 3. Korps und Garnisonskommandant von Gardes. Allerdings konnten Lodins Untergebene bisher verhindern, dass er in Gardes einzog. Nicht einmal in der Provinz ist Lodin sicher, und so zieht er es vor, in seiner Heimatprovinz Logar auszuharren.

Die Rivalitäten zwischen den fünf Amtsträgern hindern diese nicht daran, sich als loyale Diener der Regierung in Kabul zu bezeichnen. Aber außer dem schwachen Gouverneur, der inzwischen abgesetzt wurde, kann nur Gul als Vertreter des Staates, als Diener des Präsidenten Hamid Karsai bezeichnet werden. Die anderen sind enge Verbündete von Verteidigungsminister Marschall Fahim. Dieser protegiert sie, weil es, wie eine deutsche Beobachterin meint, „für Fahim wichtig ist, seine Macht in Kabul auch in der Provinz zu konsolidieren. Er tut dies, indem er ehemalige Mudschaheddin, Offiziere aus der kommunistischen Zeit und Warlords deckt“. Dies erlaubt es Leuten wie Abdullah und Siauddin in Gardes, gleichermaßen als Warlord und General aufzutreten: Als General jagt Siauddin die Warlords, als Warlord führt er Gouverneur und Polizeichef an der Nase herum. Mit Haftentlassungen wie der oben erwähnten verdient er sich Bestechungsgeld und den Respekt seiner Klientel. Der aufrechte Staatsdiener Gul scheute sich nicht, gleich bei Amtsantritt seine Meinung über den Kollegen zu verbreiten: „Er ist ein Dieb, ein Mörder, ein Verbrecher.“

Hai Gul repräsentiert immerhin einen ersten Versuch Karsais, seine eigenen Institutionen vom Warlordismus zu säubern. Gul ist ein Paschtune und ein professioneller Polizist. Aber seine Gegner haben sich bereits daran gemacht, ihn wegen seiner Vergangenheit anzuschwärzen. Ein Taxifahrer, nach seiner Meinung zum neuen Polizeikommandanten befragt, sagt: „Er ist gut“, fügt jedoch hinzu: „aber er ist ein ‚Parchami‘ “, die Bezeichnung für die früheren Kommunisten.

Mit seinen fünf Kalaschnikows kann Gul dem Kriegsherren auf dem Bala-Hissar-Hügel zudem wenig anhaben. Und von den Plänen der Regierung in Kabul, Leute wie Siauddin, Matin und Momin zu entwaffnen, hält Gul nicht viel. „Das ist der Wille Karsais, aber ist es auch der Wille seiner Minister?“, fragt er vieldeutig.

Die Macht des Staatspräsidenten reicht ohnehin nicht weit. Auch Gul hatte den überall kursierenden Spruch gehört, wonach Karsai nur der Bürgermeister von Kabul sei, während die eigentliche Macht bei Fahim von der Nordallianz liege. Fahim ist auch der Chef der neuen afghanischen Nationalarmee, die von den US-Amerikanern und den Franzosen ausgebildet wird. Sie soll zusammen mit der ebenfalls frisch rekrutierten Bundespolizei einmal das Rückgrat des neuen Staates bilden, die ohne Rücksicht auf ethnische Herkunft zusammengesetzt sein wird.

Doch genau dies stellt Polizeichef Hai Gul in Frage: „Ich war selbst Dozent an der Polizeiakademie, und ich kann Ihnen sagen, dass die meisten Rekruten von der Nordallianz gestellt werden.“ Bei der Rekrutierung für die neue Nationalarmee habe die Paschtunen-Provinz Pakhtia hundert Anwärter in die Hauptstadt Kabul geschickt. „96 von ihnen kamen wieder zurück. Die vier, die sie behielten, kamen aus Gardes“, sagt Gul. Was aus dem lokalen Dialekt übersetzt bedeutet: Sie waren Tadschiken – wie die Führer der Nordallianz.