Einer von uns

Zwei Jahre nach dem Massaker suchen die Erfurter noch immer nach Erklärungen – und finden keine („Amok in der Schule“, ARD, 23 Uhr)

VON KATHARINA TEUTSCH

Er wollte das öffentliche Leben anhalten mit einer Tat, die man nie mehr vergessen würde. Als Robert Steinhäuser am 26. April 2002 im Erfurter Gutenberg-Gymnasium 13 Lehrer, zwei Schüler, einen Polizisten und schließlich sich selbst erschoss, da schien es tatsächlich so, als sei die Zeit stehen geblieben. Mit der Identifizierung der Opfer wurde das unfassbare Ereignis zu dem, wofür es bis heute steht: zum Trauma einer idyllischen deutschen Kleinstadt. Niemand will die Schuld tragen an einem Verbrechen, das man so gerne mit dem Wahnsinn eines Einzeltäters erklären möchte.

Alle Fragen offen

Thomas Schadt und Knut Beulich versuchen sich in ihrer Dokumentation „Amok in der Schule“, die die ARD heute, kurz vor dem zweiten Jahrestag des Massakers, zeigt, nicht an Erklärungen, sie versuchen den Fall Steinhäuser mit der behutsamen Anhörung der Opfer zu fassen. Anders als die Schriftstellerin Ines Geipel, die zu Beginn des Jahres in ihrem Buch „Für heute reicht’s“ mit eindeutigen Schuldzuweisungen an die Schulleitung provozierte, verzichten Schadt und Beulich auf jede Art von Revanchismus. Sie verzichten überhaupt gleich ganz auf Off-Texte und überlassen den Schülern und Lehrern des Gutenberg-Gymnasiums das Wort und der Familie des Schützen.

Da sind natürlich die Eltern, deren Stimmen von Schauspielern gesprochen werden. Sie räumen Fehler ein: Vielleicht war es falsch, dem Sohn das Abitur aufzuzwingen, vielleicht gab es zu wenig Lob und zu viel Schelte. Doch das erklärt nicht das schreckliche Unheil, das auch die Eltern am 26. April erfasste. „Der war … ich weiß auch nicht, warum der so war“, sagt die Mutter.

Da scheint Christiane Alt, Schulleiterin am Gutenberg-Gymnasium, besser Bescheid zu wissen. Sie redet in emotionslosem Beamtendeutsch von nie erlernten Konfliktstrategien, Abgangszeugnissen und Verweisen. Die stets schwarz geschminkte Direktorin repräsentiert in ihrer instanzhaften Unantastbarkeit ein Selbstverständnis, das vor lauter Reglementierungen und Leistungsobjektiven kaum Raum für Zwischentöne findet.

Schadt und Beulich gelingt es hier auf brillante Weise, die Bilder für sich selbst sprechen zu lassen. Niemand will die Bürde der Verantwortung tragen und weist sie deshalb gleich meilenweit von sich. So macht der Film klar, in welchem Maß der Fall Steinhäuser jede Diskussion um Schuld im Keim erstickt. Und die meisten Menschen in Erfurt sind längst wieder zur Tagesordnung übergegangen.

Schwindender Protest

Die Schülerinitiative „Schrei nach Veränderung“ hat sich einen Tag nach dem Amoklauf gegründet und versteht sich als Kritikerin eines Schulsystems, in dem Individualismus und Ellenbogenmentalität, nicht aber Respekt und Solidarität gefördert werden. Die letzte groß geplante Kundgebung der Gruppe endete aus Teilnehmerschwund in einem Desaster.

Schließlich ist es die Pfarrerin, die den Fall Steinhäuser aus seiner Aura des Unfassbaren herausreißt: „Etwas wird in die Wirklichkeit gebracht, wenn es ausgesprochen wird.“ Und dann sagt sie selbst das Entscheidende: „Robert gehört dazu. Er gehört zu unserer Gesellschaft.“