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Archiv-Artikel

Orthodoxes Brooklyn in Berlin

In der Berliner Jüdischen Gemeinde übernimmt die orthodoxe Bewegung Chabad einen immer größeren Anteil der Gemeindearbeit. Bei vielen Mitgliedern stößt das auf Befremden

VON WIBKE BERGEMANN

Als am vergangenen Freitag der stellvertretende Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Julius Schoeps, nach knapp drei Monaten Amtszeit zurücktrat, begann das große Rätselraten: Was hatte den Leiter des Potsdamer Moses Mendelssohn Zentrums zum Rücktritt bewegt? Seine Erklärung auf der Repräsentantenversammlung der Gemeinde gestern Abend blieb vage: Hindernisse bei der Arbeit im Kulturdezernat, fehlende Reformen angesichts des Finanzdesasters. Schon im Vorfeld hatte Schoeps angedeutet, sein Rücktritt habe auch mit der Rolle zu tun, die die orthodoxe Bewegung Chabad Lubawitsch in der Gemeinde spiele.

Seit 1996 gibt es Chabad in Berlin: Der New Yorker Rabbiner Yehuda Teichtal wurde in die damals rasant wachsenden Jüdische Gemeinde geschickt, um ein Berliner Chabad-Zentrum zu gründen. Seitdem übernehmen die Chassidim immer mehr Aufgaben in der Gemeinde: Sie machen Besuche in Krankenhäusern und Gefängnissen, veranstalten Kinderfeste und Ferienlager, organisieren eine Thora-Schule und Kurse, die in den jüdischen Ritus einführen. Doch die zunehmende Präsenz der Orthodoxen stößen bei vielen in der Einheitsgemeinde auf Befremden – ihre Kritik wollen aber selbst maßgebliche Mitglieder nur anonym nennen.

Eine junge Frau ist erstaunt. Eigentlich wollte sie ihr Kind in einer jüdischen Kindertagesstätte anmelden. Doch in der Jüdischen Gemeinde verwies man sie an die Orthodoxen. Denn auch die Gemeinde muss sparen. Chabad hingegen bezieht nach eigenen Angaben nur 10 Prozent seines Budgets von der Berliner Gemeinde. Der Rest wird durch Spenden zusammengetragen. So ist das Angebot eine günstige Alternative für die Gemeinde: „Die ganze Kinderarbeit wird mittlerweile von Chabad organisiert. Es gibt keine andere Krabbelgruppe außer bei den Orthodoxen“, stellt die junge Russin überrascht fest. Orthodoxe verkörpern für sie ein Judentum, das ihr fremd ist.

Ihre heutige Ausrichtung erhielt die chassidische Bewegung im New York der 50er-Jahre von dem Ukrainer Rebbe Menachem Mendel Schneerson, den einige seiner besonders begeisterten Anhänger sogar für den Messias selbst halten. Wichtigstes Anliegen von Chabad Lubawitsch ist nach eigenen Angaben, anderen den jüdischen Glauben näher zu bringen. Das Outreach-Programm der Bewegung erinnert an christliche Mission. Und zwar weltweit: Chabad ist zu einer internationalen Organisation herangewachsen mit 2.000 Institutionen auf sechs Kontinenten. Auch in Deutschland gibt es bereits neun Chabad-Zentren.

„Ich habe das Gefühl, dass die hier langsam zu mächtig werden“, sagt ein junger Israeli, der in Berlin lebt. Besonders schockiert hatte ihn, als er auf dem von Chabad im März organisierten Purimfest nicht mit seiner Ehefrau tanzen durfte: Eine Trennwand auf der Tanzfläche trennte in diesem Jahr die Frauen und Männer.

„Das ist nicht mehr Berlin, das ist Brooklyn, das da einzieht“, meint ein anderes Gemeindemitglied. Der New Yorker Stadtteil gilt als ein Zentrum der jüdischen Orthodoxen. „Die Gewichtungen innerhalb der Berliner Gemeinde verschieben sich“, sagt der Mann. Besonders in der Bildungsarbeit für Kinder und Jugendliche spiele Chabad eine immer größere Rolle: „Das Erziehungswesen in der Gemeinde liegt seit Jahren danieder. Die Liberalen, die sich bisher um den Nachwuchs gekümmert haben, gehen einer nach dem anderen in Pension. An ihre Stelle treten dann die Schwarzhüte.“ Doch der Mann meint: „Die Einheitsgemeinde muss das verkraften.“

Ein langjähriges Gemeindemitglied ist skeptischer. Die Frau befürchtet einen „Ausverkauf der Einheitsgemeinde“. Und die sei schließlich etwas, „wofür wir in den USA und in Israel beneidet werden“. Eine Einheitsgemeinde sollte alle Richtungen im Judentum fördern, meint die Frau, die sich selbst zu den Konservativen zählt: „Man darf Chabad nicht alles überlassen.“

Besonders empfänglich für Chabad seien die Indifferenten, die nur dreimal im Jahr zur Synagoge gehen. Und die russischen Einwanderer, die im Atheismus aufgewachsen sind und ihre jüdischen Traditionen neu entdecken wollen: „Das chassidische Judentum hat etwas Folkloristisches. Das sieht so schön jüdisch aus“, meint die Frau. „Da wird Judentum allein über Emotionen verkauft.“ Zudem stellen die Orthodoxen die russischsprachigen Rabbiner zur Verfügung – die Berliner Gemeinde dagegen hat nur langsam auf den Zustrom aus Russland reagiert.

Doch für viele haben die orthodoxen Lehren der Chassidim nur wenig mit ihrem eigenen jüdischen Selbstverständnis zu tun, meint die Frau. Und während die Orthodoxen immer stärker das Bild der Gemeinde prägen, blieben andere nun fern.