: Das Schnäppchen
AUS POIPET STEFAN LEIFERT
Die kleine Leakana war ein Schnäppchen. 30 Euro und 95 Cent. Da haben andere Käufer schon mehr hingeblättert. Vor allem in Thailand sind kleine Mädchen teuer. Aber Leakana ist aus Kambodscha. Dort ist das Angebot groß.
Das Mädchen war zehn, als ihre Mutter sie dem Händler verkaufte. Der nahm Leakana mit nach Bangkok. Von einer Kleiderfabrik hatte er gesprochen. Von guter Unterkunft und reichlich Verpflegung. Aber wie alle verkauften Kinder musste auch Leakana durch Bangkoks Sexläden ziehen und Blumen oder Kaugummi verkaufen. Bis morgens um vier, manchmal fünf gingen ihre Arbeitstage.
„Sie wollten, dass ich täglich 1.500 Baht verdiene“, sagt sie. Das sind knapp über 30 Euro – so viel, wie sie gekostet hatte. „Wenn nicht, haben sie mich an den Haaren gezogen und in die Oberschenkel gekniffen.“ Da hatte sie Glück, andere bekommen Elektroschocks. Kinder, die nicht genug Rosen verkaufen, müssen die Stängel schlucken und mit blutigen Kehlen schlafen.
Keiner fragt, jeder weiß
Leakana haben sie für die Straße aufgetakelt, geschminkt und ein kurzes Röckchen angezogen. Niemand fragt danach, aber jeder weiß, was den Kindern in Bangkoks Vierteln wie Patpong oder Soi Cowboy passiert. Viele Kunden wollen mehr als Kaugummi und Rosen.
Heute ist Leakana zwölf und lebt wieder in Poipet – bei ihrer Mutter. Poipet ist eine wüste Ansammlung von Bambus- und Plastikhütten an der Grenze zu Thailand. Ein staubiger Slum, der etwa 80.000 Menschen aus ganz Kambodscha angezogen hat. 80 Prozent der kambodschanischen Kinder, die nach Thailand verkauft werden, kommen von hier.
Weil Poipet lange der einzige Grenzübergang nach Thailand war, wurde der Ort zum Knotenpunkt des Kinderhandels. Fast jeder hier kennt eine Familie, die einem Schlepper ein Kind mitgegeben hat. Verpönt ist das nicht. Von dem Verkauf eines Kindes kann die Familie im Idealfall ein Jahr lang leben. Vom Verkauf eines Schweins keine vier Wochen.
Ein Stofftuch vor dem Gesicht gehört zur Standardkleidung in Poipet. Beißender Gestank mischt sich in den feinen roten Staub, der das Dorf überzieht. Die Menschen zünden einfach an, was sie nicht mehr brauchen: Plastiksäcke, Autoreifen oder tote Hunde.
Neben der sandigen Hauptstraße, zwischen den windschiefen Hütten ragt ein riesiger Müllhaufen empor, neben dem auch Leakana mit ihrer Mutter und zwei kleinen Brüdern wohnt. In pinker Frotteehose und ausgebleichten Flipflops stapft sie durch den Qualm und weicht den Exkrementen aus, die überall herumliegen. Toiletten hat hier niemand. Doch die Nähe zum Müllberg hat eine praktische Seite. Zwar stinkt es, aber Plastikfetzen fliegen umher, mit denen man die Hütten für die Regenzeit wasserdicht machen kann.
Durch den Dunst, den der rauchende Haufen erzeugt, schimmert die weiße Silhouette riesiger Paläste. Investoren aus Bangkok haben in das Niemandsland zwischen den Grenzposten der beiden Nachbarländer ein Dutzend Kasinos gesetzt. Auf diesem Streifen Land gelten die thailändischen Gesetze nicht mehr, die das Glücksspiel verbieten. Thais mit Chauffeur und Dolce & Gabbana-Sonnenbrille lassen sich aus dem ganzen Land hierher kutschieren, um ein paar Dollar zu verspielen. Leakanas Mutter hätte hier gern ein Baht verdient. Doch Kambodschaner arbeiten hier nicht, das teure Marmor poliert thailändisches Fachpersonal. Kambodschaner arbeiten nebenan in den Bordellen. Wie in Bangkok.
Leakana spricht leise und einsilbig, wenn sie von Bangkok erzählt. Immer ist Sokha, ihre Mutter, in der Nähe. „Ich war sehr böse, als sie mich verkauft hat.“ Leakana presst ihre Lippen zusammen. Und weil sie den strengen Blick ihrer Mutter spürt, schickt sie schnell hinterher: „Aber sie ist ja reingelegt worden.“ Die Mutter nickt heftig: „Er hatte mir 1.500 Baht versprochen. Aber von dem Geld habe ich bis heute nichts bekommen.“
Immerhin hat sie ihre Tochter wieder. Leakana kam zurück nach Kambodscha, weil sie eines Nachts zwischen den Bordellen von der thailändischen Polizei aufgegriffen wurde. Die Polizisten sperrten sie in ein Gefängnis, das „Immigration Detention Center“. Von dem Kinderknast mitten in Bangkok gehen wöchentlich Rücktransporte an die kambodschanische Grenze.
Die Grenzer verdienen mit
Auch Leakana kam so zusammen mit 50 anderen Kindern zurück nach Poipet. Hunderte werden auf diese Weise jeden Monat vor den Füßen der schwarz uniformierten Grenzpolizisten abgeladen. Bevor sie die Posten passiert haben, fallen viele von ihnen gleich wieder in die Hände der Menschenschlepper. Und der Kreislauf beginnt von vorne.
Um das zu verhindern, versucht die kleine Hilfsorganisation Goutte d’Eau seit acht Jahren, die Kinder an der Grenze abzufangen. Die Sozialarbeiter sind verhasst bei den finster blickenden Grenzern mit den Schlagstöcken. Sie machen gute Geschäfte mit den Kinderschleppern. Demonstrativ nehmen die Goutte-d’Eau-Mitarbeiter die Kleinen an die Hand und überqueren die Brücke, die nach Kambodscha führt. Hier sollen sie nun wieder zu Kindern werden.
Verstört und misshandelt gelangte auch Leakana zunächst zu Goutte d’Eau. Wohin sollte sie auch? Zur Mutter, die sie vielleicht gleich wieder verkaufen würde? Oft sind die Eltern der Kinder schwer wiederzufinden. Straßen und Hausnummern gibt es in Poipet nicht, manche sind inzwischen weggezogen. Nur einem Drittel der verkauften Kinder gelingt es, wieder bei ihren Eltern zu leben. Bis dahin vergehen oft Monate. „Vielen müssen wir ihre eigene Sprache wieder beibringen“, sagt der deutsche Sozialarbeiter Patrick Klausberger, der für Goutte d’Eau arbeitet. In Bangkok können die Kinder mit Khmer nichts anfangen. Rosen verkaufen sie auf Englisch oder Thai. Für die Lüste ihrer Kunden brauchen sie gar keine Sprache.
Das Lachen der Mutter
Über 250 Kinder mit Bangkok-Vergangenheit leben in den Einrichtungen von Goutte d’Eau. „Wir wollen, dass diese Kinder wieder ein normales Leben führen können.“ Sozialarbeiter Klausberger und seine kambodschanischen Kollegen arbeiten deshalb eng mit den Familien zusammen. Sie versuchen, die Kinder wieder zu integrieren. Gewalttätige Väter oder drogenabhängige Mütter sind ein übliches Hindernis auf diesem Weg.
„Ich habe meiner Mutter verziehen“, sagt Leakana. Wieder presst sie dabei die Lippen zusammen. Ihre Finger kneift sie so tief in die Handflächen, dass die schmutzigen Nägel Abdrücke in der braunen Haut hinterlassen. Mutter Sokha lacht. Es ist dieses erzwungene Lachen, das nur der Mund macht. Ihr Blick bohrt sich hilflos in den Boden. „Was sollte ich denn machen? Wir hatten nichts zu essen. Wir gehören zu den Allerärmsten.“
Die zwei Männer, mit denen sie bereits zusammen war, haben sie verlassen. Sokha muss alleine für ihre Kinder sorgen. Seit Leakana wieder bei ihr lebt, muss sie ihr dabei helfen. Mit einem kleinen Schiebewagen rattern die beiden die Hauptstraße von Poipet entlang und versuchen, Nüsse oder Ananas zu verkaufen. Nachmittags streift sich Leakana eine dunkelbraune Stoffhose und ein weißes Hemdchen über. Sie geht zur Schule.
Die staatliche Schule Poipets kann ihre Mutter sich nicht leisten, auch wenn das Schulgeld dort verhandelbar ist. Bei Goutte d’Eau braucht sie nichts zu zahlen. Zu hunderten sammeln sich hier Traumatisierte, Drogensüchtige und Kinder mit Wunden von Elektroschocks. Sie sitzen auf den engen Bänken, lernen lesen, schreiben, rechnen und wie sie mit den erlebten Qualen leben sollen. Es gibt Gesetze, die die Kinder schützen sollen – auch in Thailand und Kambodscha gibt es sie. Es gibt Beamte und Richter, die sie anwenden könnten. Aber das passiere nur sehr selten, klagt Sozialarbeiter Klausberger. Niemand habe ein ernsthaftes Interesse daran. Zu viele würden am Handel mit den Kindern verdienen. Zwar wurde 1999 das erste Mal in Kambodscha eine Menschenhändlerin zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Aber es blieb ein Einzelfall, der niemanden abschreckt.
Recht und Gesetz sind auch für die Erwachsenen noch immer Neuland. Sie sind groß geworden mit der Willkür des Pol-Pot-Regimes und seiner roten Khmer und den rauen Sitten der vietnamesischen Besatzer. Man zwang Kinder, ihren Eltern mit dem Spaten den Kopf abzuschlagen und umgekehrt. Noch heute spukt der Genozid in den Köpfen der Kambodschaner.
„Dieses Trauma wird noch lange bleiben“, sagt Klausberger. Die Dinge ändern sich nur langsam. Und solange es Armut und Korruption gebe, so lange würden Kinder verkauft. So wie die kleine Leakana. Für 30 Euro 95 und ein Trauma.