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Archiv-Artikel

Kakanien kann kommen

Die Osterweiterung der EU bringt die Donaumonarchie in neuer Gestalt zurück. Statt k. u. k. Beamten also Brüsseler Bürokratie – demokratisch defizitär und wirtschaftlich erfolgreich

VON RALPH BOLLMANN

Dem wachsamen Auge des Kaisers entgeht nichts. Nicht der „Hering auf altpolnische Art“, den die Kellner auf altertümlichen Wägelchen in den Speisesaal rollen; nicht die Ente mit Backpflaumen und Nocken, die sie auf die Tische stellen; nicht die zuvorkommende Freundlichkeit, mit der sie die rudimentären Polnischkenntnisse des deutschen Gastes loben. Auch als der Palatschinken aufgetragen wird, lächelt der Kaiser noch immer sein unverändertes Franz-Joseph-Lächeln auf seinem Ölgemälde im geräumigen Saal des Restaurants Hawełka am Krakauer Marktplatz – ja, Hawełka, genau wie das Kaffeehaus in der einstigen k. u. k Haupt- und Residenzstadt Wien, gut vierhundert Kilometer oder sechs Zugstunden entfernt.

Schon am Nachmittag hatten wir aufgehorcht, als wir uns in die tiefen roten Sitzpolster des Kaffeehauses in den Krakauer Tuchhallen sinken ließen. Wir waren noch vollauf damit beschäftigt, das üppige Rankwerk zu bestaunen, mit dem Maler des Jugendstils die Wände einst verzierten – da tönten aus einer Ecke des Raums auf einmal Stimmen in nasalem Tonfall, die jüngsten Wahlen im Bundesland Kärnten erörternd und den Erfolg eines bekannten Rechtspopulisten beklagend. Ein Klingeln unterbricht das familiäre Gespräch, ja, sagt die Mutter, mit der Biologieprofessorin aus Wien sind Sie verbunden, nur leider bin ich momentan nicht in der Stadt.

Von 1846 bis 1918 wurde die frühere polnische Hauptstadt von der fernen Donau aus regiert, den Zeitgenossen galt sie gar als galizisches „Klein-Wien“. Mit der Osterweiterung der Europäischen Union vollzieht sich am 1. Mai eine Wiedervereinigung der alten Donaumonarchie. Die fünf größten unter den zehn Beitrittsländern gehörten bis 1918 ganz oder teilweise dem multinationalen Staatsgebilde an: Polen und Tschechien im Norden, die Slowakei und Ungarn im Osten, Slowenien im Süden. Kommen Rumänien und Kroatien in den nächsten Jahren noch hinzu, ist der alte Vielvölkerstaat wieder fast komplett – bis auf Teile Serbiens und der Ukraine (siehe Karte auf Seite II).

Mit der erweiterten EU entsteht ein Gebilde, das dem Reich der Habsburger nicht nur in geografischer Hinsicht auffallend ähnelt. Wo einst die Wiener k. u. k. Beamten herrschten, regiert vom kommenden Samstag an die Brüsseler Bürokratie mit einem Gewirr von Regeln und Verfahren, das den Zeitgenossen damals wie heute schwer durchschaubar scheint – und das sich mit modernen Grundsätzen demokratischer Teilhabe kaum vereinbaren lässt. Doch nicht anders als das moderne Europa erwies sich das alte Österreich-Ungarn bei allen Defiziten zugleich als Erfolgsgeschichte. Über einen erstaunlich langen Zeitraum gelang es, das komplizierte Miteinander höchst unterschiedlicher Kulturen und Mentalitäten auszutarieren.

Während der Zeit der Doppelmonarchie vom österreichisch-ungarischen Ausgleich 1867 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 blieben alle schwelenden Konflikte immerhin unterhalb der Schwelle offener Gewalt. Hätte man die Nationalitäten in einer Volksabstimmung befragt, ob sie dem skurrilen Gebilde beitreten wollten – es wäre wohl keine Mehrheit zustande gekommen. Da es die Monarchie nun einmal gab, forderte aber keine der nichtdeutschen Gruppierungen ernsthaft deren Auflösung. So war sich Tomas G. Masaryk, nach dem Ersten Weltkrieg Präsident der unabhängigen Tschechoslowakei, noch 1909 vollkommen sicher: „Wir können nicht außerhalb Österreichs unabhängig sein.“

Die Rolle des euroskeptischen Störenfrieds, die heute die Briten so virtuos übernehmen, spielten damals die deutschsprachigen Einwohner der Monarchie. Sie blockierten in Cisleithanien, dem österreichischen Reichsteil westlich des Leitha-Flusses, alle Versuche zu einem Ausgleich mit den kleineren Nationalitäten. Das Vorhaben, die tschechische Sprache in der Bürokratie Böhmens und Mährens gleichberechtigt neben die deutsche zu stellen, scheiterte 1897 am teils gewalttätigen Widerstand der Deutschen in der gesamten Monarchie. Denn nicht anders als Tony Blair hielten die Deutschösterreicher eine „special relationship“ in der Hinterhand. Nicht zum fernen Amerika allerdings, sondern zu den vereinigten deutschen Staaten des Bismarckreichs, denen sich die radikalen Wiener Nationalisten noch immer anschließen wollten – trotz der militärischen Niederlage im Krieg gegen Preußen, die Österreich 1866 aus dem neuen Deutschland ausschloss.

Die Mehrheitsmeinung war das freilich nicht. Das triste Bild von Weltschmerz und Dekadenz, das die Rückschau auf die Donaumonarchie seit den Zwanzigerjahren bestimmt, speist sich aus dem nachträglichen Wissen um das böse Ende. Fast alle Bücher, die das heutige Bild der Habsburgermonarchie prägen, sind erst nach ihrem Untergang erschienen. Joseph Roths „Radetzkymarsch“ und Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ kamen Anfang der Dreißigerjahre auf den Markt, Stefan Zweigs „Sternstunden der Menschheit“ während des Zweiten Weltkriegs, Heimito von Doderers „Strudlhofstiege“ sogar erst 1951.

All diese Autoren neigten dazu, die Welt des untergegangenen Vielvölkerstaates im Lichte von Kriegs- und Nachkriegswirren zu einer besseren Vergangenheit zu verklären – sie aber zugleich mit der Ahnung eines Untergangs zu verknüpfen, die in den Jahrzehnten vor 1914 keineswegs vorherrschte. „Auch als boshafte Kritiker bleiben sie Gefangene dieser märchenhaften und sehnsüchtigen Verklärung der Welt der Donaumonarchie“, schreibt der italienische Schriftsteller Claudio Magris aus dem ehemals österreichischen Triest.

Als es die Monarchie noch gab, saßen die Besucher der Kaffeehäuser keineswegs auf jenen durchgewetzten Sitzbezügen, auf denen sich die Touristen der Gegenwart ins Fin de Siècle träumen. Sie saßen auf nagelneuem rotem Samt. Die Fassaden der Gründerzeitbauten, deren tristes Grau heute einen so morbiden Charme verbreitet, waren damals frisch verputzt. Das weit gespannte Eisenbahnnetz mit seinen Stationsgebäuden in verblichenem Schönbrunner Gelb war damals, als das Gelb noch leuchtete, nichts weiter als ein höchst modernes Transportmittel.

Das kulturelle Leben Wiens war vor 1914 nicht „dekadent“, sondern ganz im Gegenteil „optimistisch, selbstbewusst und zukunftsorientiert“, wie die amerikanische Balkan-Kennerin Barbara Jelavich betonte. „Die Zeitschrift der Secession nannte sich ‚Heiliger Frühling‘, nicht ‚Heiliger Winter‘, und in der Architektur ging es um die Stadt der Zukunft, nicht um den Weltuntergang. Auch wenn um 1914 ein Geist der Verantwortungslosigkeit und des fröhlichen Fatalismus in der Luft lag, war niemand auf die bevorstehende Katastrophe vorbereitet.“

Wie im heutigen Europa die Multiplex-Kinos, so sprossen um die vorletzte Jahrhundertwende binnen wenigen Monaten in allen Städten der Monarchie großzügig dimensionierte Theatergebäude aus dem Boden. Allein das Wiener Architektenduo Hermann Helmer und Ferdinand Fellner errichtete rund vierzig Theater überall in der Monarchie, vom „Königlich Kroatischen Landes- und Nationaltheater“ in Zagreb bis zum „Stadttheater“ von Czernowitz, vom „Neuen Deutschen Theater“ in Prag bis zum „Kaiser Franz Josef I. Jubiläumstheater“ in Klagenfurt.

Vor allem in der Zeit nach 1866/67, nach der Niederlage gegen Preußen und dem Ausgleich mit Ungarn, erlebte die Monarchie einen beispiellosen wirtschaftlichen Boom. Nach zwei Ereignissen mithin, die in der Sicht deutschnationaler Historiker den endgültigen Niedergang des Habsburgerreichs angeblich schon besiegelt hatten. Die beiden Hauptstädte Wien und Budapest wetteiferten um die großzügigsten Boulevards, um die aufwändigsten Regierungsgebäude, um die prächtigsten Opernhäuser. Die größeren Provinzstädte suchten nach Kräften mitzuhalten, von der tschechischen Metropole Prag bis zur galizischen Hauptstadt Lemberg.

Der Aufschwung beschränkte sich freilich nicht auf die Baukonjunktur. Wirtschaftshistoriker konstatieren in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg ein konstantes Wachstum auf respektablem Niveau. Der Warenaustausch zwischen den Teilen der Monarchie nahm ebenso stetig zu wie der Außenhandel, und die Sozialpolitik hielt mit den wirtschaftlichen Erfolgen durchaus Schritt. Österreich-Ungarn imitierte nicht nur das Bismarcksche Versicherungssystem für Arbeiter. Es führte 1909 sogar als erster Staat Europas ein vergleichbares System für Angestellte ein. Zeitgenossen wie moderne Historiker mögen noch so sehr über den Reformstau im Vielvölkerstaat klagen – verglichen mit vielen anderen Ländern fällt die Bilanz einigermaßen positiv aus.

Eindeutige Defizite zeigten sich vor allem in der Außenpolitik, auch dies eine erstaunliche Parallele zur Europäischen Union. Es erwies sich als überaus schwierig, die außenpolitischen Interessen der weitgehend autonomen Reichshälften überhaupt auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen und nach außen eine klare Linie zu vertreten. Die bunt zusammengewürfelte Armee mit ihrer wilden Vielfalt an Uniformen hielt zwar bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zusammen, war aber schon in den militärischen Konflikten des 19. Jahrhunderts anderen Großmächten nicht mehr gewachsen. Die Forderung, das schwer erlernbare Ungarisch als gleichberechtigte Kommandosprache neben dem Deutschen einzuführen drohte die Schlagkraft der multinationalen Truppe weiter zu schwächen.

Zur Schicksalsfrage der österreichisch-ungarischen Union sollte letztlich das Verhältnis zur Türkei werden. Spätestens seit den Belagerungen Wiens durch die Türken 1529 und 1683 hatte die Propaganda der Habsburger das Osmanische Reich zur außereuropäischen Macht erklärt und die Unterstützung Österreichs gleichsam zur ersten Christenpflicht gemacht. Je weiter die Habsburger in den Türken- und Balkankriegen nach Südosten vordrangen, desto mehr zeigte sich, dass der „kranke Mann am Bosporus“ als Teil Europas unverzichtbar war. Sein unaufhaltsamer Rückzug gefährdete die Stabilität des ganzen Kontinents und führte schließlich in den Weltkrieg.

Zum Debakel kam es in Sarajevo. Um das Machtvakuum auf dem Balkan zu füllen, fühlte sich die Doppelmonarchie zur militärischen Besetzung von Bosnien-Herzegowina genötigt. In der Balkanpolitik verfochten die Reichshälften Österreich und Ungarn ebenso unterschiedliche Interessen wie später das serbophile Frankreich und das kroatenfreundliche Deutschland.

Zu einer klaren Lösung solcher Konflikte kam es nur selten, denn das Geflecht des österreichisch-ungarischen Verfassungsrechts konnte es mit den komplizierten Mehrheitsregeln moderner europäischer Kompromisspakete spielend aufnehmen. Während die Kritiker heute den Vertrag von Nizza für alle Misslichkeiten des multinationalen Alltags verantwortlich machen, galt damals der österreichisch-ungarische Ausgleich von 1867 als Ursache des Übels.

Zwar wurde durch die Vertragsbestimmungen zeitweise jede Einigung auf eine gesamtstaatliche Politik verhindert, doch hielt die Budapester Regierung an den für sie so günstigen Bestimmungen eisern fest – ganz so, wie heute wieder europäische Politiker rufen: „Nizza oder der Tod!“ Im Westen der Monarchie herrschte über den Vertrag eher die Meinung vor, die der Wiener Bürgermeister Karl Lueger formulierte: „Ich betrachte den Dualismus als das größte Unglück, das mein Vaterland je ertragen musste.“

Die europäischen Politiker beschlossen das chaotische Vertragswerk in einer Nachtsitzung an der Côte d’Azur, und auch beim österreichisch-ungarischen Ausgleich musste alles so schnell gehen, dass manche Historiker annehmen, Kaiser Franz Joseph habe das klein Gedruckte des Vertrags gar nicht vollständig gelesen. Schließlich fürchtete die Wiener Politik nach der blamablen Niederlage gegen Bismarcks Preußen um den Zusammenhalt der Monarchie. Obendrein wich die ungarische Version, die der Monarch mit dem Namenszug „Ferenc József“ unterschrieb, in einigen wesentlichen Punkten von der deutschsprachigen Variante ab. Das trübte indes nicht die Stimmung in der Matthiaskirche auf dem Burgberg von Buda, wo der ungarische Ministerpräsident Graf Andrássy dem Wiener Kaiser in einer feierlichen Zeremonie die ungarische Königskrone aufs Haupt setzte.

So entstand ein Verfassungsgebilde, das der Erweiterung um immer mehr eigenständige Nationalitäten stets weniger gewachsen war. Vergleichsweise unproblematisch verlief noch die zweite Erweiterungsrunde, als nach den Ungarn auch die Kroaten verbriefte Rechte eingeräumt bekamen. Nur ein Jahr nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 schlossen Budapest und Zagreb den ungarisch-kroatischen Ausgleich von 1868 ab – ein geradezu historischer Versöhnungsschritt, hatten doch zwanzig Jahre zuvor in der Revolution von 1848 noch Kroaten und Ungarn gegeneinander gekämpft.

Je mehr Nationen freilich das Recht einforderten, sich in den gemeinschaftlichen Institutionen ihrer eigenen Sprache zu bedienen, desto chaotischer gestalteten sich die Prozesse der gemeinsamen Entscheidungsfindung. So durfte sich jeder Abgeordnete im Parlament von Cisleithanien seiner eigenen Landessprache bedienen, und das bei unbegrenzter Redezeit. Es fehlte ein Dolmetscher- und Übersetzerdienst – der auch im heutigen Europa an seine Grenzen stößt, wo es bei künftig 21 Amtssprachen immerhin 440 mögliche Übersetzungskombinationen gibt. So konnten im hellenistische Prachtbau an der Wiener Ringstraße unverständliche Dauerreden auf Ukrainisch oder Slowenisch „die Parlamentsarbeit über Wochen blockieren“, wie die Wiener Historikerin Brigitte Hamann beklagt. Unter den Zuschauern, die das Treiben von der Galerie verfolgten, war auch der junge Adolf Hitler: „Hier erhielt er seine einprägsame Lektion, wie Demokratie nicht funktioniert.“

Im Guten wie im Schlechten, schrieb der britische Historiker Alan Sked schon vor mehr als zehn Jahren, habe er bei den europäischen Debatten der Gegenwart „Mühe, nicht an habsburgische Themen erinnert zu werden“. Wenn am alten Kakanien schon nicht alles vorbildlich war, so sollten die Europäer die Geschichte der Habsburger jedenfalls studieren, „um wenigstens aus deren Irrtümern zu lernen“.

RALPH BOLLMANN, 34, leitet das Inlandsressort der taz. Er ist gerade von einer größeren Reise durch Kakanien zurückgekehrt