: Die Muttscha-Kultur
Heilige Vierfaltigkeit! Bremen bewirbt sich um den Titel der Kulturhauptstadt Europas 2010. Kommende Woche soll das Bewerbungskonzept veröffentlicht werden. Zu spät – aus langjähriger Erfahrung weiß taz Bremen Ex-Redakteur Burkhard Straßmann schon jetzt, warum der Titel an die Weser geht: Bremen hat die Kraft der vier Kulturen
Sicher, sicher. Bremen wird Kulturhauptstadt. Wird definitionsgemäß seinen kulturellen Reichtum vorzeigen (Stadtmusikanten). Wird die Gemeinsamkeit mit europäischen Kulturen herausstellen (Freiausschank von Gdansker Goldwasser). Wird seine Kinder Kunst und Kultur entdecken lassen (Hüpfburgen). Bremen wird schon alles richtig machen. Und Europa wird sich für seine Kulturhauptstadt nicht schämen müssen. Denn Bremen ist nicht nur eine Stadt der Kultur. Sondern sogar – Scheibe abschneiden, Städte Europas! – eine Stadt der Kulturen.
Kopf-hoch-Kultur
Auf jedem Bremer Kopf lastet eine Schuld von 16.000 Euro. Spitzenbelastung! Und? Geht der Bremer darum gebeugt oder geduckt? Wirkt er irgendwie deprimiert?
Gar nicht! Fragt man ihn, ob es ihm noch gut geht, sagt er fröhlich : „Muttscha!“ (muss ja).
Macht ja auch einfach Spaß, die Weserufer aufzuhübschen, die Innenstadt edel zu sanieren und gewaltige Investitionen in den Wesersand zu setzen. Noch mehr Spaß macht, dass die Kohle dafür von den Erbtanten in Süd- und Westdeutschland kommt, großherzigen Geschöpfen, die nur gelegentlich mit den dritten Zähnen knirschen.
Wenn die Tanten mal wieder maulen, man solle Bremen endlich ungespitzt in den Sandboden der norddeutschen Tiefeben rammen, lacht der Lümmel von der Weser nur: Bremen gibt es, solange die Bremer wollen. Die Bremer aber wollen immer, und solange es Bremen gibt, müssen die anderen zahlen. Arm sind viele europäische Städte. Schlimmer als arm ist arm und depressiv. Dass man auch am Tropf noch seinen Spaß haben kann – das kann man von den Bremern lernen.
Mund-zu-Kultur
Die Leute, also die Nichtbremer, denken, Bremen läge an der Nordsee. Bis zur Nordsee sind es 60 Kilometer. Falls die Nordsee da ist. Meist ist Ebbe. Dann ist die Nordsee 70 oder 80 Kilometer weg. Man erkennt: Ob Bremen an der Nordsee liegt, ist eine relative Frage.
Eigentlich spricht alles dafür. Der Bremer trägt Troyer und Ölzeug. Im Wohnzimmer hängt ein Brett mit Seemannsknoten. Das Schiff, das innerstädtisch am Weserufer liegt, heißt nicht Flussnotrettungskreuzer, sondern Seenotrettungskreuzer. Und: Der Bremer sagt Köösche statt Kirsche und Kööche statt Kirche. Weil er den Mund nur ungern aufmacht. Das liegt am Seewind. Den Mund nicht aufzumachen hat zahllose Vorteile, was insbesondere süd- und südosteuropäische Städte interessieren sollte. Wer nichts sagt, sagt zum Beispiel nichts Falsches. Diese Weisheit ist personifiziert im Trainer von Werder Bremen, Schaaf. Werder Bremen ist nicht zuletzt darum so unauffällig zum deutschen Spitzenteam geworden, weil man nie etwas Falsches gesagt hat.
Dass Bremen Kulturhauptstadt wird, wird bestimmt nicht solchen Ratgebern zu verdanken sein, die posaunen, die Stadt müsse jetzt die Trommel schlagen, sich sogar lustvoll im europäischen Schaufenster rekeln. Das ist wirklich nicht bremisch. Bremisch ist eine Tasse Kaffee, eine gute Zigarre und ein kleines „muttscha“.
Kohabitations-Kultur
In zahllosen europäischen Städten wird engagiert gestritten. Wütend gestritten. Beinhart gestritten. Heraus kommt dabei neuer Streit und ansonsten nichts.
In Bremen kommt nur nichts raus. Denn Streit mag der Bremer nicht. Viel zu anstrengend. Schadet dem Geschäft. Die längste Zeit nach dem Krieg war Bremen vollständig sozialdemokratisch. Es gab lediglich eine kleine Opposition. Vielleicht mal Gezänk. Aber Streit?
Heute ist Bremen vollständig rotschwarz. Eine Opposition gibt es nicht mehr. In der Stadt gibt es nur noch Liebe, und die Symbolfigur der Liebe ist der alles umarmende Bürgermeister, den der Bremer den „langen Henning“ nennt. Wahrscheinlich ist Bremen zu klein für ernsthaften Streit. Oder genau richtig groß für die Konsensdemokratie. Leute, die sich mit den Bettgeschichten in der Stadt auskennen, sagen, in Bremen habe jeder mit jeder geschlafen. Fragt man die Bremer, sagen sie: „Muttscha!“ Die Kohabitationskultur der Stadt stimmt wahrscheinlich generell milde. Auch in dieser Hinsicht ist Bremen unbedingt beispielhaft.
In-der-Ruhe-liegt-die-Kraft-Kultur
Manchmal rennt einer durch die Stadt und schreit. „Dieses irre Musical muss sofort her, hat am Braodway Milliarden eingespielt!“ Oder: „Bremerhaven muss unbedingt das tollste Großaquarium der Welt haben! Und im Bremer Überseemuseum muss das zweittollste Großaquarium der Welt stehen! Bremen wird Großaquariummetropole!“ Oder: „Ein Konzerthaus auf, ja auf! der Weser, das ist genau, was Bremen fehlt!“ Oder: „Her mit dem wahnsinnigsten Weltraumpark des Universums, bringt Trilliarden Besucher und ein messerscharfes Image!“
Immer, wenn wieder einer durch die Stadt gerannt ist mit einer neuen Idee, wie man Bremen nach vorn oder oben bringt, bricht ein großes Palaver aus. Politiker und Presse und Kulturleute schreien durcheinander. Gutachten und Berater verschlingen Unsummen. Der Bremer aber kennt das Theater. Er lehnt sich zurück und brummt: „In der Ruhe liegt die Kraft.“ Er hat natürlich Recht. Denn am Ende, wenn 300 Millionen Euro verballert sind (Musical plus Spacepark) und alle sich wieder lieb haben, kommt immer ein neues Einkaufszentrum dabei raus.
Derzeit rennt wieder einer durch die Stadt und schreit. Das ist ein Ethnologe aus der Schweiz: „Bremen muss aufbrechen! Alles muss anders werden! Bremen muss radikal werden, rücksichtslos im besten Sinne. Bremen muss sich neu erfinden!“ Der Manager der Bremer Kulturhauptstadt-Bewerbung hat einen Haufen guter Ideen. Doch der Bremer lehnt sich zurück. Kennt er. Am Ende wird ein neues Einkaufszentrum dabei rauskommen. Muttscha.
Burkhard Straßmann