jazzkolumne
: Nenn mich nicht Avantgarde!

Musiker wie Anna Claudine Myers, Roswell Rudd und Enrico Rava sträuben sich gegen das Stigma der Avantgarde

Don Moye, der Schlagzeuger des afroamerikanischen Musikerkollektivs Art Ensemble of Chicago, brachte die Sache einst auf den Punkt. Jazz oder „Great Black Music“, so wie Moye es nennt, sei unmittelbarer Inhalt seines Lebens, was die Black Panther auf der politischen Ebene ausdrückten, hätte das Art Ensemble musikalisch gemacht. Die schwarze Jazz-Avantgarde der Sechziger- und frühen Siebzigerjahre war in dem Sinne also gar nicht abstrakt, ihre in Chicago wirkende Selbstorganisation AACM, Association for the Advancement of Creative Musicians, kümmerte sich um Auftrittsmöglichkeiten und die musikalische Ausbildung schwarzer Kids.

Doch heute wirke das Avantgarde-Label nur noch stigmatisierend, sagt die Pianistin, Organistin und Sängerin Amina Claudine Myers. Sie wuchs in Arkansas und Texas auf, leitete dort Kirchenchöre und sang in lokalen Clubs. In Chicago kam sie später in Kontakt mit der AACM und deren Great-Black-Music-Konzept, einem originären Mix aus afrikanischen Rhythmen, Blues, Gospel, Soul und freiem Jazz. Seit Mitte der Siebziger lebt Myers in New York und sagt heute, dass sie sich stigmatisiert fühle, wenn man sie dieser Avantgarde zurechnet. So bekomme man kaum noch einen Job. Das ist der wunde Punkt.

Dass sie mit dieser Position ihre Zeit mit dem Trompeter Lester Bowie oder dem Pianisten Muhal Richard Abrams nicht über den Haufen werfen will, steht auf einem anderen Blatt. Innerlich bleibe sie dem Free Thing verpflichtet, und bei den Gospelsongs, die sie heute komponiert, gehe es ihr weniger um den Liedtext, sondern um die emotionale Tiefe, die die Musik erreiche. Ihr Song „Down On Me“ handle von Erfahrungen, die jeder kennt: Wenn man die ganze Welt gegen sich vereint wähne und überall nur kalte Wände spüre. Schwarze reden häufig von „Jesus“ und „Lord“, sagt Myers, doch diese Termini könne man auf alles beziehen, was einem spirituell Kraft gibt.

Aber auch die Gospelmusik hat sich verändert. Songs, die heute komponiert werden, sprechen davon, dass es Hoffnung gibt in diesem Leben. Eigentlich sei sie damals nach Chicago gekommen, um zu unterrichten, sie sei sehr stolz auf ihr Diplom gewesen und habe gar nicht vorgehabt, als professionelle Musikerin selbst auf der Bühne zu stehen. Aber die AACM-Mitglieder, die damals sehr aktiv waren, hätten sie respektiert und ermutigt, aufzutreten und auch eigene Musik zu schreiben. (Anna Claudine Myers spielt am 28. 4. in Berlin und am 30. 4. in Göppingen.)

Auch der Posaunist Roswell Rudd, der Mitte der Sechziger einer der wenigen weißen Musiker war, die im inneren Kreis schwarzer Avantgardisten wie Archie Shepp und Bill Dixon spielten, äußerte jüngst große Bedenken, was die Historisierung der so genannten Avantgarde betrifft. Für ihn sei der Begriff damals für eine sehr lebhafte, politisch engagierte und innovationshungrige Künstler-Szene und ihre Musik reserviert gewesen. Heute bastelt der 41-jährige Trompeter Dave Douglas zwar an einer zeitgemäßen Neuausrichtung des politisch motivierten Jazz – der Titel seiner aktuellen CD „Strange Liberation“ verdankt sich einem Ausspruch von Dr. Martin Luther King Jr. über den Vietnamkrieg und ist als Kommentar über die amerikanische Politik im Irak gedacht.

Doch als Rudd unlängst in einer New-York-Times-Rezension eines Konzerts des Trompeters Dave Douglas im New Yorker Jazzclub Village Vanguard lesen musste, dass auch der „avant-garde Posaunist Roswell Rudd“ mitgespielt habe, schrieb er einen Gegenkommentar, den er per E-Mail verbreitete. Darin nannte er sich „The Artist Formerly Known as Avant-Garde“ und sprach von den negativen Auswirkungen, die der Begriff heute seiner Meinung nach habe – zumindest in den USA. Schließlich habe er alle möglichen Musikstile im Laufe seines Lebens gespielt, aber „avant-garde“ sei heute zu einem Synonym für etwas geworden, das einfach keiner hören möchte. „Also nenn mich Dixieland, innovativ oder lyrisch, und ruf mich an, wenn du einen Gig für mich hast, aber nenn mich auf gar keinen Fall avant-garde“, schreibt der 68-jährige Rudd, sich durchaus bewusst, dass der Kritiker es gar nicht bös gemeint hatte. Von den wenigen „aufrechten“ Hörern könne halt kein Musiker leben.

Was in den Sechzigern Avantgarde war, könne heute bestenfalls Retro-Garde genannt werden, falls immer noch das gleiche Material gespielt wird, sagt der italienische Trompeter Enrico Rava, der Ende der Sechzigerjahre in New York lebte und spielte. Für ihn gehören die Sounds der Sechziger unmittelbar zu den gesellschaftlichen Bedingungen jener Zeit. „1968 haben wir die Revolution vorbereitet, und die Musik dieser Tage hieß Free Jazz“, resümiert Rava heute. Die Musiker kämpften damals parallel zur gesellschaftlichen Revolution für die Befreiung der Musik von überholten Strukturen. Die Musik von Cecil Taylor, Don Cherry, Albert Ayler habe so gesehen großen Sinn gemacht in jenen Tagen. Doch heute sieht Rava keinen Grund mehr, diese Musik zu spielen. „Ich mag Leute, die neue Wege einschlagen.“ Tomasz Stankos CD „Soul Of Things“ sei ein gutes Beispiel dafür, er habe eine eigene Stimme, keine Nostalgie, kein Wiederaufwärmen von alten Sachen. Auch Ravas soeben erschienene CD „Easy Living“ (ECM) kann man als geradezu wundersamen Beleg für diese Zielvorgabe hören.

CHRISTIAN BROECKING