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Archiv-Artikel

Requiem für den amerikanischen Traum

Ein moralischer Satiriker in der schwärzesten Tradition von Jonathan Swift, ein Moralist, der seine Figuren für ihre Verfehlungen anklagt und sie nicht nur in seinem Romanklassiker „Letzte Ausfahrt Brooklyn“ in ihrer ganzen Schäbigkeit darstellt: Zum Tod des amerikanischen Schriftstellers Hubert Selby

VON SEBASTIAN DOMSCH

Die literarische Szene im Amerika der Sechzigerjahre betrat Hubert Selby mit einem Paukenschlag, der für die Leser seines ersten und nach wie vor bekanntesten Romans „Letzte Ausfahrt Brooklyn“ richtiggehend zum Faustschlag wurde. Heute, fast genau vierzig Jahre nach der Veröffentlichung dieser Höllenfahrt mitten ins Herz der urbanen Kriegszone USA, ist Selby international anerkannt als einer der innovativsten Nachkriegsschriftsteller Amerikas. Damals aber stieß sein Erstling neben Begeisterung auch auf Entsetzen und Abscheu, was juristische Konsequenzen nach sich zog. In England wurde der Roman zum Gegenstand eines Verfahrens wegen Obszönität, in Italien wurde er ganz verboten. Bereits vier Jahre zuvor hatte die Veröffentlichung des Kapitels „Tralala“ in einer Literaturzeitschrift dazu geführt, dass deren Herausgeber wegen Verbreitung von Pornografie verhaftet wurde.

Verdammung und Erfolg gingen Hand in Hand, und das Buch erhielt fast augenblicklich die Sanktion eines derben Untergrundklassikers. An diesem Kultstatus hat sich bis heute wenig geändert, zumal die Verfilmung durch Bernd Eichinger im Jahr 1988 die Geschichte noch einmal für die späten Achtzigerjahre präsent machte. „Letzte Ausfahrt Brooklyn“ ist Selbys wichtigste und eindrucksvollste Arbeit. Sie zeichnet sich durch ihre rohe Distanzlosigkeit aus und führt den Leser in die hoffnungslose Welt des amerikanischen Lumpenproletariats der frühen Fünfzigerjahre – eine Welt aus Verkommenheit, Drogenmissbrauch, Selbstzerstörung und exzessiver Gewalt. Kein anderes seiner späteren Bücher erreichte diesen Grad der Unmittelbarkeit. Die Wirkung eines überraschenden Faustschlags lässt sich eben so leicht nicht wiederholen.

Geboren am 23. Juli 1928 in Brooklyn stand seine Kindheit unter dem Stern der Depression und der Chancenlosigkeit. Die High School besuchte er gerade mal ein Jahr, bevor er zur Armee und nach Europa ging. Dort erkrankte er schwer an Tuberkulose und verbrachte die folgenden dreieinhalb Jahre in verschiedenen New Yorker Krankenhäusern. Nach seiner Genesung freundete er sich mit einer Reihe von Schriftstellern an, schrieb für literarische Zeitschriften und arbeitete sechs Jahre lang an seinem ersten Roman.

Trotz der offensichtlichen Sozialkritik, die sich in „Letzte Ausfahrt Brooklyn“ und den darauf folgenden Büchern äußert, ist Selby primär ein Moralist, ein moralischer Satiriker in der schwärzesten Tradition von Jonathan Swift, der seine Figuren für ihre Verfehlungen anklagt und sie in ihrer ganzen Schäbigkeit darstellt. Der amerikanische Traum ist nicht nur tot, sondern gänzlich vergessen, hat möglicherweise nie existiert. Was übrig bleibt, ist der reine Überlebensinstinkt.

In seinem zweiten, sogar noch schwärzeren Roman „Mauern“ von 1971 entwickelte Selby eine ausweglos klaustrophobische Situation, indem er sich ganz auf den hasserfüllten Monolog eines Mannes beschränkt, der aufgrund nicht näher benannter Verbrechen im Gefängnis sitzt. Schuld ist so allgegenwärtig wie eine ungerichtete Wut in diesem beklemmenden Porträt der machtlosen Unterschicht.

Mit seinen nächsten Büchern, bei der Kritik weitgehend durchgefallen, ging Selby stärker in Richtung konventioneller Literatur. Es folgte eine zwanzigjährige Pause, die erst 1998 durch den überraschend versöhnlich gestimmten Roman „The Willow Tree“ beendet wurde, dem 2002 sein letzter Roman „Waiting Period“ folgte. Am Montag erlag Hubert Selby im Alter von 75 Jahren in seinem Haus in Los Angeles den Folgen einer chronischen Bronchitis.