Aufstand eines Arbeitersohnes

Gesundheitsexperte Horst Seehofer (CSU) will neuerdings die „Privatisierungsorgien“ seiner Fraktion nicht mittragen

Hat der Mann keine Lust mehr? Geht es ihm nicht gut? Oder hat er großen Spaß und mischt noch einmal alles auf, bevor er sich zur Ruhe setzt? Was ist bloß in Horst Seehofer gefahren? Der einzige echte Gesundheitsexperte, den die Union hat, treibt quer, aber so richtig. Hängt sich mit Ideen aus dem Fenster, die von SPD und Grünen propagiert werden, aber doch nicht von der Union! Mitten in der Gesundheitsreform!

Eine „Bürgerversicherung“ unter Einbeziehung von Selbstständigen und Beamten fordert er, was einer Verdrängung der privaten Krankenkassen gleichkommt: Das ist für die CDU Teufelszeug. Denn die steuert andersherum, will privatisieren, nach einer mühsam errungenen Einigung Anfang dieser Woche zwischen CDU-Chefin Angela Merkel und CSU-Chef Edmund Stoiber nun nicht die ganzen Zahnbehandlungen, sondern nur noch den Zahnersatz.

Seehofer, immerhin CSU- und auch Unionsfraktions-Vizechef, will damit nichts am Hut haben. Er ist gegen „Privatisierungsorgien“ und aus Protest der Sitzung der Unionsfraktion gestern ferngeblieben, wo die Zahnersatzprivatisierung bei nur zwei Gegenstimmen aus der CSU beschlossen wurde. Völlig abgetaucht war er gestern, was bei der Unionsspitze schmallippig zur Kenntnis genommen wurde. Denn die Presse fragte nicht nach Unions-Visionen, sondern nur eines: Wo ist Seehofer? Doch doch, man werde wieder mit ihm reden, sagte Merkel, ein weiterer Fraktionsvize, Friedrich Merz, einen Satz mit den Worten „notfalls auch ohne Horst Seehofer“. Deutlicher wurde der Unions-Abgeordnete Wolfgang Zöller: „Seehofer muss seine Meinung ändern oder seinen Posten.“

Nun hat der Ingolstädter schon oft seine Meinung geändert. Noch im Jahr 2001 formulierte er ein Thesenpapier, in dem er selbst den Zahnersatz zur Disposition stellte. Als Gesundheitsminister unter Helmut Kohl hat Seehofer sich von 1992 bis 1998 erst an der Entmachtung der Ärztekartelle versucht und dann davon Abstand genommen. Seine Kostendeckelungspolitik bezeichnet er heute als „Fehler“. Denn im Frühjahr 2002 kam er nach langer Krankheit mit einer ganz neuen Haltung aus der Klinik zurück: Gesundheitsausgaben dürften nicht gedeckelt werden, alles müsse viel mehr vom Patienten als vom Geld aus gedacht werden.

Die Heilung von seiner Herzmuskelentzündung hat er als „ein kleines Wunder“ bezeichnet. Die Krankheit war dem hochgewachsenen, heute 54-Jährigen noch lange anzusehen. Und irgendwie kam er seither noch kokett-bescheidener als vorher rüber, ein bisschen schlitzohrig, jedenfalls nicht besonders machtversessen.

Sehr distanziert äußerte er, Sohn eines Bauarbeiters, der mit 16 als Laufbursche arbeiten musste und ohne Abitur seinen Weg gemacht hat, sich in jüngster Zeit über Mitglieder seiner Partei, die bloß Forderungen von Wirtschaftsverbänden nachbeteten: „Da reden Großbürger, die selbst nie betroffen sein werden.“ Zur Herzog-Kommission, der Unions-Antwort auf die Rürup-Kommission, ist er auch nicht mehr gegangen. Gleichwohl vermuteten Unions-nahe Zeitungen schon, Seehofer setze in diesem Sozialreformjahr auf den Fall von Rot-Grün und eine Wiederkehr als Minister. Nach dem Streit der vergangenen Tage ist vor allem Letzteres kaum wahrscheinlicher geworden.

ULRIKE WINKELMANN