Der Stimmbruch der Frau

Hohe, monotone Frauenstimmen sind häufig ein Indiz für erlittene Traumata – vielleicht weisen sie sogar auf nach wie vor aktuelle Ungleichbehandlung von Frauen hin. Als ein Hamburger Stimmtherapeut darüber forschte, stieß er auf überraschend viele Widerstände

VON PETRA SCHELLEN

Vielleicht wäre er lieber Schauspieler geworden. Oder Bass. Oder Bariton. Das Zeug dazu hat er jedenfalls, der Hamburger Hals-Nasen-Ohrenarzt und Stimmtherapeut Niels Graf von Waldersee: Sichtlich vergnügt ahmt er die verschiedensten Stimmlagen nach – damit man sich besser vorstellen könne, wovon er gerade spricht. Dabei will er sich nicht etwa lustig machen über jene, die extreme Tonlagen nutzen. Im Gegenteil: Auf Jahren der Praxis basieren seine Thesen, die er auch als Buch vorgelegt hat. Die Rede ist: von hohen Frauenstimmen.

Von jener Tonlage also, die im 19. Jahrhundert als Ausdruck krankhafter Hysterie galt und die mancher bis heute dem „Weibchen“-Typus zuordnet, der durch Schrillheit auf sich aufmerksam macht. Tradition hat dieser Typus des hilflosen Sopran-Frauchens in der Oper; kein Zufall, dass es dort meist „von der Mutter ungeschützte Töchter sind“, wie Waldersee es formuliert, „die alsdann vom Vater gemordet werden“. Über den Hörgenuss der hohen Stimme lässt sich streiten. Anfang des 20. Jahrhunderts galten jene Koloratursopranistinnen als besonders erwünscht, die „einer Flöte gleich“ klangen: möglichst leblos. Und des Banausentums verdächtig macht sich bis heute, wer derlei Tonlagen nicht so schätzt.

Warum aber interessiert die hohe Frauenstimme einen Arzt, dem es um die Heilung kranker Stimmen geht, nicht um die Analyse abweichender Tonlagen? „Weil beides oft zusammengeht“, sagt Waldersee. Auffällig oft sind in den letzten Jahren Patientinnen in seine Praxis gekommen, denen die Stimme versagte. Lehrerinnen zum Beispiel oder Unternehmerinnen, die sich kein Gehör verschaffen konnten. Die man überhörte und die – und jetzt wird Waldersee ganz authentisch wütend – „wegen ihrer hohen Stimme sogar beschimpft hat“.

Ratlos saßen diese Frauen dann in seiner Praxis und wollten eigentlich bloß ein Stimmtraining. Keine wäre darauf gekommen, dass die Stimmhöhe auf ein Trauma hinweisen könnte. Kaum eine hatte Lust, sich intensiv mit den Ursachen ihres Problems zu befassen – dabei lagen die für den Fachmann auf der Hand. „Parallel zum männlichen Stimmbruch, der die Stimme acht Töne tiefer werden lässt, vertieft sich normalerweise auch die Frauenstimme“, so Waldersee – „aber nur um drei Töne.“ Der Zeitpunkt des Stimmbruchs: die Pubertät, „in der sich der junge Mensch von der Familie löst und über seinen weiteren Lebensstil entscheidet“.

Doch hier beginnen auch die Unterschiede: „Der männliche Stimmbruch ist gesellschaftlich ausdrücklich erwünscht“, sagt der Phoniater. „Der weibliche weniger.“ Frauen werde es schwerer gemacht, sich abzunabeln, immer noch würden sie häufig zu „braven Mädchen“ erzogen. Starre Erwartungshaltungen, Liebesentzug – kurz: seelische Misshandlungen zählt Waldersee zu den Auslösern für das Ausbleiben des weiblichen Stimmbruchs, der „inkompletten Mutation der weiblichen Stimme“, wie es im Fachjargon heißt.

Physiologisch lässt sich das Phänomen exakt erklären: Die hohe Stimme resultiert – wie bei einem gedehnten Gummiband – aus einer zu großen Spannung der Stimmbänder. „Wenn die Streckmuskeln des Körpers sich anspannen, spannt sich der äußere Kehlkopfmuskel mit – auch auch die Stimmbänder. Das hängt mit der Verkettung der Muskeln zusammen, auf die man keinen Einfluss hat“, sagt Waldersee. Gehe man zum Beispiel auf Zehenspitzen oder in Stöckelschuhen, spanne sich der gesamte Körper. Das könne bis in die Stimmbänder reichen.

Dabei will Waldersee gar nicht die hohe Frauenstimme an sich in Misskredit bringen. „Eine modulierte, lebendige Stimme kann sehr schön klingen, und viele Frauen sind glücklich damit.“ Ihm geht es vielmehr um jene Stimmen, die auf einer bestimmten Tonhöhe erstarren, kaum die Höhen variieren und sehr monoton klingen.

„Es ist mühsam, solchen Stimmen zuzuhören, die Enge und Aggression zugleich transportierten“, sagt er. Oft sei das so subtil, dass man es schwer fassen könne. Und genau hier, beim Benennen, blockieren oft auch die Patientinnen. Waldersee kann das verstehen: „Die Stimme ist etwas sehr Intimes. Und wenn ich diesen Frauen sage, ihnen sei Unrecht geschehen, schauen sie mich hilflos an und sagen, alles sei doch in Ordnung“, sagt Waldersee. „Ist es natürlich nicht.“ Aber da heranzukommen sei schwierig. „So, wie entwicklungsgeschichtlich vor der Sprache das Lautieren und Grimassieren steht, müssen auch diese Frauen über eine Stimmtherapie zum eigentlichen Problem vorstoßen.“ Erst nach längerer Arbeit mit dem Logopäden seien die Patientinnen fähig, die seelischen Hintergründe zu besprechen. „Das sind schmerzhafte Prozesse“, sagt Waldersee, „die oft aber tatsächlich zu einer Veränderung der Stimmlage von der Kinder- zur Frauenstimme führen.“

Umso irritierter war er, als er bei seinen Recherchen in Fachkreisen auf Widerstand stieß. Man hielt das Thema für irrelevant, ohne das näher zu begründen. Eigenartig auch, dass das männliche Pendant, die Fistelstimme, bestens erforscht sei, die Frauenstimme dagegen kaum: „693 von 700 Quellen, auf die ich stieß, befassten sich mit der männlichen hohen Stimme“, sagt Waldersee. Hier gebe es offenbar weniger Tabus. Männer mit Fistelstimme gälten nicht als „richtige Männer“, vermutet der Phoniater. „Zu denen kann man sich gönnerhaft hinabbeugen, sie analysieren und behandeln.“

Bei der hohen Frauenstimme liegt das Problem offenbar tiefer: Da geht es nicht nur um das persönliche Trauma einer einzelnen Frau. Da herrscht womöglich die Sorge, die „inkomplett mutierte Stimme“ könne tatsächlich Symptom sein für eine immer noch virulente Benachteiligung der Frau an sich. Und darüber diskutiert eine sich emanzipiert fühlende Gesellschaft wohl nicht so gern.

Niels Graf von Waldersee: „Ach, ich fühl’s. Gewalt und die hohe Stimme“, Kadmos 2008, 378 S., 24,80 Euro