: Der Wedding ruft, die Zugereisten antworten
Die Brauseboys sind eine neue Lesebühne, die sich in ihren „Weddinger Wochen“ mit dem schwierigen Sesshaftwerden in Berlin beschäftigt
Lesebühnen gibt es in Berlin an jedem Tag der Woche. Die Branche brummt, die Ensembles sind eingespielt und zumeist vollzählig. Wer neu ist und auch mitlesen will, muss sich da schon um die Gründung einer neuen Truppe kümmern. Aber besteht dafür überhaupt Bedarf? Die „Brauseboys“ aus dem Wedding sind offenbar dieser Ansicht, denn seit März treten sie regelmäßig im Laine-Art im Wedding auf. Dabei brauchen sie sich nicht zu verstecken: Das Programm ist abwechslungsreich und überdurchschnittlich gut. Und im Gegensatz zu anderen Veranstaltungen der Branche kreisen die verschiedenen Texte um ein thematisches Zentrum, wodurch der Abend auch als Ganzes interessant wird.
Zumindest gilt das für die so genannten „Weddinger Wochen“, zu denen das fünfköpfige Männerensemble in diesem Monat jeweils donnerstags einlädt. Neben den Brauseboys tritt noch ein zusätzlicher Lesebühnenpromi auf, der Weddingbezüge glaubhaft beteuern muss. An diesem ersten Donnerstag ist es Andreas Scheffler von der Urmutter aller Lesebühnen, „Dr. Seltsams Frühschoppen“.
Zunächst muss allerdings festgestellt werden, dass die Taktik, mittels „Wedding“-Bezug ein lokales Publikum anzusprechen, nicht aufgeht. Denn Leute aus dem Bezirk sind unter den etwa 30 Anwesenden in dem kleinen Galerieraum im Erdgeschoss kaum vertreten. Vielleicht ist das aber auch besser so, denn die weddingspezifischen Beiträge – meist komisch-absurde Dramatisierungen von Alltagserlebnissen – fallen eher klischeehaft aus. Zudem wendet sich das Programm ohnehin an ein breiteres Publikum: Der Wedding selbst dient als Projektionsfläche für ein anderes Problem – es geht um Neuberliner, die Schwierigkeiten mit dem Heimischwerden in der mythischen Kapitale und deren unklarem Selbstbild haben. Offenbar sind alle Ensemblemitglieder nach Berlin zugezogen – bis auf Moderator Nils Heinrich alle aus Westdeutschland –, und der Vergleich zwischen Heimatstadt und Berlin-Wedding ist allgegenwärtig.
In der für die Lesebühnen typischen Form des komischen Spiels mit dem Anspruch biografischer Authenzität wird so im Laufe des Abends auf alle möglichen Weisen der Wedding als Symbol der Beziehung zu Berlin dargestellt. Bei Gaststar Andreas Scheffler, der mit Texten von Anfang der 90er-Jahre die erste Generation der nach der Wende Zugezogenen vertritt, äußert sich das Heimisch-werden-Wollen noch in mitunter bitterer Polemik gegen die große Angstfigur des Neuberliners: den deutschen Touristen (wobei bei seinem Vortrag die Touris merkwürdigerweise berlinern).
Nils Heinrich seinerseits lässt alte Weddinger Arbeiterlieder wieder aufleben. Ironisch verfremdet, etwa durch die stumme Kommunikation über Bildtafeln, wird das Verhältnis des Wedding zu seiner eigenen Geschichte und der Ostdeutschlands thematisiert. In den melancholischen Liedern von Heiko Werning schließlich, die zu dem sonst überwiegend komischen Ton des Abends einen angenehm ernsten Gegenpart bilden, erscheint der Wedding als sicherer Rückzugsort bei der Erforschung des neuen Berlin in Szene-Mitte, aber auch als ein Garant unglamouröser bodenständiger Authenzität, die beim Wegzug aus den Kleinstädten Westdeutschlands verloren zu gehen drohte.
Natürlich dreht sich nicht alles an diesem Abend um Berlin-Zugehörigkeit. So sind auch die an Lesebühnen üblichen mehr oder weniger selbstironisch abgebremsten, mehr oder weniger gelungenen Allmachtsfantasien zu hören. Frank Sorge imaginiert sich in einem Text als Geheimagent, der bei der Expo eine verführerische Kriminelle entkleidet. Man kennt solche Texte, mit denen die so gut wie ausschließlich männliche Lesebühnenpopulation dem alltagsgebeutelten Affen Narzissmus plump Zucker gibt.
Demselben Autor gelingt aber mit einem anderen Beitrag etwas sehr Wichtiges, in der Lesebühnenwelt keineswegs Selbstverständliches. Sorge bringt die Brauseboys dazu, über die Grundlagen ihres eigenen Handwerks nachzudenken und über die Mängel, die einigen Texten doch anzumerken sind. Seine Collage abgebrochener Textanfänge führt den Arbeitsprozess vor: die Suche nach Themen, den Umgang mit dem Assoziationsstrom, die Filterung geeigneter Ideen und Einstiege. Diese gelungene Form der komischen Selbstreflexion gibt einem interessanten Abend das nötige intellektuelle Rückgrat. PATRICK BATARILO