: Die Zeit der Zurückhaltung ist vorbei
In den USA enthüllen immer mehr Bücher Interna aus der Bush-Regierung – zum Ärger der Zeitungen
Dass Leute, die den Zentren der Macht in Washington nahe sind, aus dem Nähkästchen plaudern, sei ja nun nicht Neues, konstatierte die New York Times in ihrer Sonntagsausgabe süffisant. Schon 1934 habe Irwin Hood Hoover in einem Buch über seine 42 Jahre als Hausmeister im Weißen Haus berichtet. Allerdings, so der Times-Autor David J. Kirkpatrick, habe Hood – wie viele Regierungsbedienstete nach ihm – seine Erinnerungen artig für sich behalten, bis keine der handelnden Personen seiner Geschichten mehr im Amt war. Im Jahr 2004, so die Times, hätten sich jedoch anscheinend die Sitten geändert – und das nicht zum Besseren.
Anlass für die Klage der Zeitung – die neben der Washington Post den Anspruch erhebt, national die Meinung zu bilden – ist eine regelrechte Flut von Büchern, in denen hochrangige Politiker, Geheimdienstagenten und Offizielle erzählen, wie es im Inneren der Regierung Bush zugeht – und das, noch während der Mann im Amt ist. Der geschasste Finanzminister Paul O’Neill hat dem Journalisten Ron Suskind seine Einsichten anvertraut, der frühere oberste Terrorismusbekämpfer Richard A. Clarke redet ebenso Tacheles wie die Präsidentenberaterin Karen Hughes, der einstige Botschafter Joseph C. Wilson hat für die kommenden Wochen Autobiografisches angekündigt, Craig Usher zeigt die Verstrickungen Bushs mit den Saudis, und Bob Woodward, der mit seinen Enthüllungen schon 1973 den Watergate-Skandal aufgedeckt hatte, zitiert in „Plan of Attack“ nicht weniger als 75 Quellen aus engsten Regierungskreisen. Zu guter Letzt erwarten die Buchläden in den USA täglich die Chronik der Bushs, „The Family“, von Promi-Reporterin Kitty Keeley. „Bücher haben die Zeitung als ersten Entwurf der Geschichtsschreibung abgelöst“, empört sich die Times und sieht darin eine Abwertung ernsthafter politischer Buchpublikation zu „bloßem Journalismus“.
Dass die Times so pikiert um sich schnappt, hat seinen guten Grund: „Die Times ist doch nur sauer, dass in den Büchern die Geschichten stehen, die im eigenen Blatt hätten stehen sollen“, benennt Professor James Carey von der Columbia School of Journalism das Offenkundige. Bei Richard Clarke und bei Bob Woodward etwa wird unmissverständlich Bushs Wille zum Krieg gegen den Irak schon unmittelbar nach dem 11. September deutlich: Es wird klar belegt, wie das Weiße Haus die Geheimdienste instrumentalisierte, um Kriegsgründe zu fabrizieren, es wird ein finsteres Bild des machiavellistischen Vizepräsidenten Cheney gezeichnet und dokumentiert, wie er seinen Gegenspieler Colin Powell ausgespielt hat. Die Times, die mächtigste liberale Stimme im Land, geht hingegen noch bis heute vergleichsweise zart und unentschlossen mit der Bush-Regierung um. Kritik an Bush ist in der Hauptsache als Zitat aus dem Mund des demokratischen Kandidaten John Kerry zu lesen – wie erst am Montag die Enthüllung von Bushs Ölpreis-Absprachen zu Wahlkampfzwecken mit den saudi-arabischen Öl-Prinzen.
Mit solcher Zurückhaltung könnte die Times jedoch die Zeichen der Zeit verkannt haben. „Es macht sich mittlerweile im Land und im Pressekorps das Gefühl einer nationalen Krise breit“, sagt James Carey. Howard Dean habe den Wahlkampf für eine härtere Kritik an Bush geöffnet, und obwohl Dean nun ausgeschieden sei, sei durch die Verschärfung des Diskurses die Regierung unter Druck geraten. Hinzu komme, dass sich die Ereignisse im Irak beim besten Willen nicht mehr schönen ließen, und so werde immer wahrscheinlicher, dass Bush nicht wieder gewählt wird. Und weil die Befürchtung immer geringer wird, weitere vier Jahre in einem von Bush regierten Amerika zurechtkommen zu müssen, trauen sich immer mehr Leute aus der Regierung, mit Journalisten zu reden, sowie immer mehr Journalisten, Bush offen anzugreifen. Die Untragbarkeit der jetzigen Regierung wird als immer drängender empfunden: „Ich hätte noch zwei Jahre an meinem Buch feilen können“, sagt Bob Woodward, „aber mein Verleger und ich hatten das Gefühl, dass es wichtig ist, dieses Buch vor der Wahl auf den Markt zu bringen.“
Dass die Buchform gewählt wird, um den Charakter der Bush-Regierung offen zu legen, liegt sicherlich auch daran, dass es nach wie vor so schwierig ist, in Blättern wie der Times eindeutig Position zu beziehen. „Die großen Zeitungen sind so sehr um Ausgewogenheit bemüht, dass es schwer ist, eine Geschichte zu erzählen“, so James Carey. Zum anderen, so Carey, seien Bücher jedoch auch wesentlich wirksamer als Zeitungsartikel: „Als Buchautor erreicht man ein wesentlich größeres Publikum. Nicht etwa, weil so viele Leute lesen, sondern weil man als Autor wochenlang in den Medien herumgereicht wird – Talkshows, Rezensionen, öffentliche Auftritte. Man hat viel mehr Gelegenheit, seine Botschaft zu verbreiten, als mit einem einzigen Artikel.“
Einen Sittenverfall sieht Professor Carey, anders als die New York Times, in der Welle von Neuerscheinungen nicht. Im Gegenteil: Er findet, dass die Bücher eine wichtige US-amerikanische Tradition fortsetzen: „Es gab schon immer politisch engagierten Journalismus in Buchform“, sagt Carey und glaubt nicht, dass die neuen Bücher mit dieser Tradition brechen. „Die Bücher von Norman Mailer in den Sechziger- und Siebzigerjahren, die Sozialreportagen um die Jahrhundertwende, die die Produktionsbedingungen in der Industrie beklagt haben; wenn man will, kann man sogar ‚Onkel Toms Hütte‘ zu dieser Tradition rechnen, denn dieses Buch hat den Weg für den Bürgerkrieg geebnet.“
Das Buch ist in Amerika seit je ein machtvolles Instrument politischer Einflussnahme. Dass es nun, in Allianz mit dem Fernsehen, das die Botschaften der neuen Bücher verbreitet und verstärkt, die Zeitung in Bedrängnis bringt, ist nicht frei von Ironie. Höchste Zeit jedenfalls für die altehrwürdigen Blätter, ihre Rolle zu überdenken.
SEBASTIAN MOLL