Estland: Eigenbrötler im Norden

Er sei ein Eigenbrötler, grüblerisch und werfe sich niemandem leichtfertig an den Hals. Bevor er mit jemandem Freundschaft schlösse, behauptet der Este, müsse er mit ihm sieben Pfund Salz vertilgen. Bemühen andere Völker den „gesunden Menschenverstand“, so beruft sich der Balte auf den „Bauernverstand“, und der ist auch hier eher störrisch, verschlossen und zuweilen kleinkariert.

Nationaldichter Anton Tammsaare schrieb dem Typus liebevoll die Sturheit eines Maultiers zu. Zwei Drittel der 1,3 Millionen Einwohner leben inzwischen in der Stadt, haben aber, da erst in dritter Generation, meist noch Verwandte auf dem Land. Höfe liegen weit voneinander entfernt, so als würden sie mürrisch Distanz halten. Ganze 30 Einwohner kommen auf einen Quadratkilometer. Mit 45.227 Quadratkilometern Fläche ist der nördlichste baltische Staat größer als die Niederlande. Die nordischen Winter, Einsamkeit und die 700 Jahre währende Fremdherrschaft nennt das Volk als Grund seiner Reserviertheit.

Die zweitgrößte ethnische Gruppe stellen die Russen mit 26 Prozent. Seit der Zwangsannexion durch die UdSSR 1940 ist das Verhältnis zum übermächtigen Nachbarn von tiefem Misstrauen bestimmt. Estlands Russen – meist Nachfahren der von Stalin mit dem Ziel ethnischer Durchmischung angesiedelten Arbeitskräfte – und Esten gehen mit den historischen Folgen indes pragmatischer um als andere Nachfolgestaaten der UdSSR.

Die Esten gehören der finno-ugrischen Sprachfamilie an. Sie verstehen die Finnen. Aber nicht immer: Sagt der Finne: „Die Zimmer sind geputzt“, versteht der Este: „Die Leichen sind geschmückt.“ KHD