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Archiv-Artikel

Perspektivisch die dicken Damen ärgern

Vor dem Europacup der Leichtathletik kämpfen etablierte Stars mit Verschleiß, und der Nachwuchs ist frustriert

STUTTGART dpa ■ Zahlreiche Pflegefälle, wenige Asse und einige Hoffnungsträger: Die deutsche Leichtathletik steht gezwungenermaßen vor einem Generationswechsel. Während aus der zweiten Reihe Nachwuchskräfte wie 800-m-Läufer René Harms ins Rampenlicht rennen, kämpfen Olympiasieger wie Nils Schumann, Heike Drechsler oder Weltmeister wie Martin Buß und Charles Friedek um den Anschluss. Beim Europacup-Finale der Superliga am Wochenende in Florenz haben die jungen Leute ihre Bewährungschance. Bis zur Weltmeisterschaft in Paris (23. bis 31. August) wird der Umbruch aber noch lange nicht vollzogen sein. „Die Normen sind in diesem Jahr irre hoch“, kritisierte nicht nur Weitspringerin Bianca Kappler.

Heike Drechsler, in Ehren ergraut und mit tiefen Falten im Gesicht, hält ihre olympische Goldmedaille von 2032 in die Kamera. Die Maskenbildnerin hatte ganze Arbeit geleistet. „Ohne Nachwuchs sehen wir alt aus“, wirbt die Weitspringerin auf Plakaten für die Bundesanstalt für Arbeit. Das gilt auch für den Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV), der nicht mehr lange auf ruhmreiche Routiniers wie Drechsler bauen kann. Und nicht überall gibt es so hoffnungsvolle Ansätze wie in ihrer Disziplin. „Während im internationalen Frauen-Weitsprung die Tendenz abwärts geht, geht es bei uns nach oben“, sagte Leistungssport-Chef Rüdiger Nickel. Doch selbst Kappler (bisher 6,69 m) kämpft noch um die WM-Qualifikation (6,75) und findet das „etwas frustrierend“.

Ausgerechnet in einer Umbruchphase leiden die DLV-Athleten unter den zum Teil „nicht mehr realistischen Normen“ (Nickel) des Weltverbandes IAAF. Selbst die angeschlagene Drechsler wird damit wohl zu kämpfen haben. Die 38-jährige Karlsruherin ist noch nicht in die Saison eingestiegen. Das gilt auch für Hochsprung-Weltmeister Buß, der nach seiner dritten Knie-Operation um die Fortsetzung seiner Karriere bangt. 400-m-Läuferin Grit Breuer und 800-m-Olympiasieger Schumann (beide Achillessehnenbeschwerden) hinken ebenso weit hinterher. Dreispringer Friedek sowie die Stabhochsprung-Asse Michael Stolle und Danny Ecker sind verletzt. Sprinterin Sina Schielke plagt der Ischias, die Dortmunderin fällt für Florenz aus.

International eine Bank sind derzeit nur Stabartist Tim Lobinger, der wiedererstarkte Diskus-Hüne Lars Riedel, der in Paris seinen sechsten WM-Titel gewinnen kann, und Speerwerferin Steffi Nerius. Selbst 400-m-Europameister Ingo Schultz ist noch nicht richtig in die Gänge gekommen.

„Die neue Generation ist präsent“, meint DLV-Cheftrainer Bernd Schubert. Aber mehr auch noch nicht. Langfristig baut der Verband auf Talente wie die 64 Kilo leichte Hammerwerferin Susanne Keil, 24, die „die dicken Damen in den nächsten Jahren etwas ärgern will“, Stabhochspringerin Annika Becker, 21, und auch 800-m-Läufer Harms. Der 20-Jährige aus Pirna schlug bei den letzten deutschen Meisterschaften bereits Schumann und hat sich in diesem Jahr auf 1:45,39 gesteigert. Für Paris hat sich Herms ganz realistisch das Halbfinale als Ziel gesteckt: „Der Endlauf wäre eine schöne Zugabe.“

Derweil ist die Glanzzeit so mancher Topathleten vorbei. Das weiß auch eine über viele Jahre bewährte Medaillensammlerin wie Astrid Kumbernuss. Die einstige Nummer eins der Welt, mittlerweile 33 und von ihrem langjährigen Lebensgefährten Dieter Kollark getrennt, hat in Paris nach eigener Einschätzung „vielleicht eine Chance auf eine Bronzemedaille, aber dann muss alles optimal laufen“.