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Archiv-Artikel

Die Bilanz als Affront

Ausgerechnet am Jahrestag des „Kriegsendes“ im Irak erinnert der US-Sender ABC an die gefallenen US-Soldaten

Das Verlesen aller bislang im Irakkrieg bislang getöteten US-Soldaten im amerikanischen Fernsehen wird, so könnte man meinen, in der Öffentlichkeit als patriotischer Akt wahrgenommen. Immerhin druckten in den vergangenen Tagen zahlreiche US-Zeitungen, darunter die Washington Post, auf mehreren Seiten die Bilder gefallener GIs. Doch die Aktion des Politmagazins „Nightline“ im TV-Sender ABC löste erneut eine heftige Diskussion über den Umgang der US-Medien mit toten Soldaten aus: Moderator Ted Koppel, respektierter Journalist und Urgestein im US-Fernsehen, hatte am Freitagabend die Namen der bis dahin 721 Todesopfer verlesen. Dazu wurden Bilder der Soldaten gezeigt.

Das Datum war bewusst gewählt: Vor einem Jahr erklärte Präsident George W. Bush in einer aufwendig inszenierten Show auf dem Flugzeugträger „Abraham Lincoln“ unter dem Banner „Mission erfüllt“ die Hauptkampfhandlungen im Irak für beendet.

Dass Koppel für seine traurige TV-Bilanz jedoch ausgerechnet den Jahrestag des angeblichen Kriegsendes wählte, galt konservativen Medien als Affront. Sie witterten eine Anti-Bush-Kampagne. Die Sinclair Broadcast Group, größter Eigentümer lokaler TV-Stationen in den USA, deren Direktoren laut CNN eifrig für Bushs Wahlkampf spenden, weigerte sich daraufhin, das Programm „Nightline“ wie sonst üblich in seinen Regionalmärkten auszustrahlen. Die Begründung: Die Berichterstattung demonstriere eine Anti-Kriegshaltung, versuche die Bemühungen der USA im Irak zu untergraben und die Stimmung im Land dahin gehend zu beeinflussen, dass die US-Truppen aus dem Irak abgezogen würden.

Dabei bemüht sich kaum ein TV-Magazin so sehr um eine umfassende Berichterstattung über den Irakkrieg wie „Nightline“. Das halbstündige Magazin, auf einem der teuersten Sendeplätze vor Mitternacht eine TV-Ikone, hätte 2003 beinahe einer Talkshow weichen müssen. Schließlich konkurriert es mit den Spaßprogrammen der „Late Night“-Shows von Letterman und Leno. Doch ABC entschied sich überraschend für seinen Erhalt.

Der Sender wies am Wochenende die Kritik an der Aktion zurück und nannte sie „ein Ausdruck des Respekts“ vor den Toten. Unterstützung bekamen die Programmmanager von mehreren Kriegsveteranenorganisationen, den oppositionellen Demokraten und vom republikanischen Senator John McCain, der den Rückzieher der Sinclair Group als „beleidigend“ gegenüber den Soldaten und ihren Familien empfand. In der Bevölkerung schien das Echo auf die Namensverlesung überwiegend positiv, wie Rundfunk und Zeitungen berichteten. MICHAEL STRECK