Schöne Aussichten

Ein nicht immer reibungsloses Geben und Nehmen zwischen einer Stadt an der Ostsee und ihrem berühmtesten Sohn: Wie der sammelwütige und stets um Anerkennung ringende Schriftsteller Walter Kempowski seinen 75. Geburtstag in Rostock feierte

Kempowski: „Grass in Lübeck, Koeppen in Greifswald und ich mittendrin in Rostock, das klingt nicht schlecht“

VON GERRIT BARTELS

Als Walter Kempowski von der Stadt Rostock gefragt wurde, ob sie seinen 75. Geburtstag feierlich begehen dürfe, muss die Antwort ein wenig gewunden-zurückhaltend ausgefallen sein. Kempowski listete die Ehren auf, die ihm seine Heimatstadt in jüngerer Zeit hatte zuteil werden lassen, die Ernennung zum Ehrenbürger und jene zum Honorarprofessor der Universität Rostock, um dann erst seine Zusage zu geben und sich darüber zu freuen, dass Rostock nun auch seinen Geburtstag scheinbar „mit Pauken und Trompeten“ feiern wolle.

„Typisch für Walter Kempowski“ nennt Rostocks Oberbürgermeister Arno Pöker diese Antwort, als er am vergangenen Donnerstag den Festakt zu Ehren Kempowskis im Rostocker Rathaus eröffnet und dem Anlass entsprechend das hohe Lied auf Kempowski zu singen beginnt, gipfelnd in der fast beschwörend vorgetragenen Aussage: „Sie haben immer einen festen Platz in Rostock, so wie wir einen festen Platz bei Ihnen haben.“

Das scheint selbstverständlich zu sein, hat Kempowski hier doch die ersten 16 Jahre seines Lebens verbracht; findet sich die Stadt Rostock vor allem in vielen seiner Romane detailliert beschrieben vor; und lassen sich hier noch immer ehemalige Wohnhäuser der Familie Kempowski und andere Gebäude aus Kempowskis Leben besichtigen. Das scheint selbst dann noch selbstverständlich, bedenkt man, dass Kempowski in Rostock 1948 von den Sowjets wegen Spionage verhaftet und dann acht Jahre in Bautzen gefangen gehalten wurde, nachdem er sich vorher schon zwei Jahre lang im Westen Deutschlands aufgehalten hatte. Und dass er zu DDR-Zeiten überhaupt nur einmal für vier Tage die Stadt besuchte und ab 1981 als „Feind des Sozialismus“ gar Einreiseverbot hatte.

Und doch merkt man in diesen zwei Tagen in Rostock, da die Stadt und ihr berühmtester Autor diesen Geburtstag mit einem Festakt, einer abendlichen Lesung und einer von Kempowski geleiteten Schulstunde an dessen ehemaliger Schule feiern: Zwischen beiden gibt es ein nicht immer harmonisches Zusammenspiel, zwischen beiden ist ein nicht immer reibungsloses Geben und Nehmen. So gibt es zwar seit über zehn Jahren ein Kempowski-Archiv, das sich direkt neben der Universität im Klosterhaus 3 des ehemaligen „Klosters zum Heiligen Kreuz“ befindet. Doch hat es, wie der ehrenamtlich tätige Archivleiter Jan-Peter Schulze sagt, seine Zeit gedauert, bis man in der Stadt höheren Orts von der Notwendigkeit eines Kempowski-Archivs überzeugt gewesen sei. Überzeugungsarbeit hätten nicht zuletzt gut besuchte Ausstellungen und Veranstaltungen wie „Eine Jugend im Dritten Reich“ und „Die Rezeption von ‚Im Block‘ “ leisten müssen.

Allerdings hat Kempowski seinen Vorlass – die Romanmanuskripte, die Korrespondenz, seine pädagogischen Unterlagen und mehr – der Akademie der Künste in Berlin überlassen, was wiederum Verstimmungen bei der Rostocker Universität auslöste. Diese hätte natürlich liebend gern, jedoch unentgeltlich den literaturwissenschaftlich ungleich wichtigeren Teil des Archivs in Rostock gehabt – der für einen Professor reservierte Platz beim Geburtstagsessen könnte auch deshalb leer geblieben sein.

Nun hält auch das Archiv in Rostock noch einiges bereit. Es bildet Kempowskis Sammel- und Archivierungswahn kongenial ab, hat dabei eher lebensweltliche Bezüge und enthält mitunter skurrile Memorabilien. Neben der von Kempowski rekonstruierten elterlichen Bibliothek (wo Thomas Manns „Buddenbrooks“ zwischen Ina Seidels Büchern und Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ steht) gibt es Exponate aus der achtjährigen Bautzener Haftzeit Kempowskis, inklusive eines Brotkanten, den er angeblich am Tag seiner Entlassung bekommen hat; und neben Kempowskis Schreibtisch, an dem er Erfolgsromane wie „Tadellöser & Wolff“ schrieb, gibt es immerhin auch eine umfangreiche Materialsammlung, die unter anderem aus seinen ersten unveröffentlichten Gehversuchen als Schriftsteller besteht oder aus den von Kempowski aufgezeichneten Lebenserinnerungen seiner Mutter, Schwester und seines Bruders.

Lässt sich nun über die hierarchische Wertigkeit von Kempowskis Archiven streiten (nicht zu vergessen schließlich das große dritte bei Kempowski zu Hause im norddeutschen Dörfchen Nartum, wo 300.000 Fotografien und 7.000 ungeschriebene Autobiografien lagern), so versteht es Kempowski zumindest, das hiesige in ein angemessenes und auch den Rostockern schmeichelndes Verhältnis zu setzen. In seiner Dankesrede sagt er, dass Rostock mit dem Archiv nun gleichgezogen habe mit Lübeck und Greifswald: „Grass in Lübeck, Koeppen in Greifswald und ich mittendrin in Rostock, das klingt nicht schlecht.“ Ein Satz, den auszusprechen nicht zuletzt Kempowski selbst ein großes Vergnügen bereitet, gibt es doch zwei zeitlebens elastische Antriebsfedern für sein großformatiges Werk, das unter anderem aus zehn Romanen, drei bisher veröffentlichten Tagebüchern, mehreren Befragungsbüchern und nicht zuletzt dem vielstimmig-collagierten „Echolot“-Projekt besteht.

Da ist der Vorsatz, die eigene, durch den Zweiten Weltkrieg zersprengte Familie zumindest literarisch wieder zusammenzusetzen; einhergehend mit einem Abtragen von Schuld, von individueller, weil Kempowski lange glaubte, auch für den Gefängnisaufenthalt seiner Mutter verantwortlich zu sein, von kollektiver, weil sein geliebtes Bürgertum mit den Nazis aufs heftigste kollaboriert hatte. Und da ist Kempowskis stetiges Ringen um Anerkennung, die er zwar mit „Im Block“ und beim Publikum mit den ersten Romanen in den späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahren auch bekommen hatte. Die aber später mehr und mehr von Zurückweisungen seitens der Literaturkritik überlagert wurde, der auf politische Korrektheit achtenden zumal, die Kempowski immer als konservativ und reaktionär angesehen hatte, als einen, der die Nazizeit verharmlose. Spätestens mit dem „Echolot“ aber, diesem großen deutschen Geschichtsbuch, hat sich das Klima Kempowski gegenüber gewandelt, gilt er als Vorreiter der inzwischen fast inflationär erscheinenden deutschen Erinnerungsromane und subjektiven Geschichtsbücher von Tanja Dückers bis Wibke Bruhns. Da erstaunt es Kempowski höchstens noch, dass sich Günter Grass mit seinem „Gustloff“-Roman als „kühner Tabubrecher“ feiern lässt, wo er selbst sich doch seit Jahrzehnten nicht nur mit dem Ausmaß der deutschen Schuld, sondern auch mit Flucht und Vertreibung beschäftigt.

So macht er während der Rostocker Feierlichkeiten auch einen souveränen Eindruck, der davon zeugt, dass er Ehrungen gewohnt ist. Nicht übermäßig gerührt wirkt er, sondern selbstbewusst nimmt er das ihm Zustehende entgegen: die Glückwünsche, die Geschenke, vor allem aber seine zweite Ehrendoktorwürde durch das in Pennsylvania beheimatete Juniata-College, deren Verleihung in Form von Hut, Talar und Stola er gewissermaßen „durchheitert“ mit dem Sprüchlein: „Mein Vater hätte jetzt gesagt: Je kleiner die Statur, desto wichtiger die Montur.“

Diese Souveränität zeigt sich später auch, als er an die Adresse seines Verlags gerichtet davon spricht, dort wohl als sehr schwieriger Autor zu gelten, er aber mindestens genauso liebenswürdig sei. Er ist nicht der erste schwierige Autor, mit dem ein Verlag zurechtkommen muss – doch vor dem Hintergrund der Produktivität Kempowskis lässt sich leicht ausrechnen, dass gerade die Beziehung zwischen Kempowski und dem Knaus Verlag, der seit fast 30 Jahren seine Bücher veröffentlicht, eine nicht immer einfache ist: Hier ein Autor, der um seine Verdienste und um seinen Erfolg beim Publikum weiß. Der aber immer wieder Projekte ersinnt, die auf den ersten Blick nicht erfolgversprechend scheinen und die Kapazitäten des Verlags auch in Zukunft aufs äußerste strapazieren dürften. Man denke an die zwei jeweils vierbändigen „Echolot“-Ausgaben, die sich mit über 30.000 Exemplaren allerdings gut verkauften; und an die zahlreichen Tagebücher, die Kempowski noch veröffentlichen will, an die Gedichte, die er begonnen hat zu schreiben, oder an ein Projekt namens „Plankton“, das aus „Tausenden von Erinnerungskristallen“ besteht, wie der Germanist und Kempowski-Mitarbeiter Dirk Hempel in seiner kürzlich erschienenen ersten Kempowski-Biografie schreibt, „das Ergebnis ausgedehnter Befragungen seit den Sechzigerjahren“.

Kempowski gegenüber steht ein Verlag, der zum Random-House-Konzern gehört und genau weiß, dass er in Kempowski ein auch Random House zierendes literarisch hochrangiges Aushängeschild hat. Der sich aber den wirtschaftlichen Vorgaben des Mutterkonzerns fügen und zumindest im Kleinen Erträge abwerfen muss. Und der naturgemäß einen gesunden Skeptizismus an den Tag legt, wenn ein Autor wie Kempowski so zielgerichtet am eigenen Verschwinden innerhalb seines dokumentarisch-archivarischen Werks arbeitet. Insofern ist es genauso symptomatisch wie folgerichtig, dass Klaus Eck, der Verlagsleiter von Random House, bei seiner Laudatio auf Kempowski im Hotel Steigenberger zusätzlich seinen Kollegen K. D. Wolff vom Frankfurter Stroemfeld Verlag zu dessen erster Kempowski-Veröffentlichung beglückwünscht: einer Art Poesiealbum, das fast hundert Autogramme von befreundeten Autoren und mehr oder wenigen Prominenten von Hermann Burger bis Helmut Zierl enthält, zusätzlich versehen mit Kommentaren von Kempowski. „Das 1. Album, 1981 bis 1986“ heißt der Band, da Kempowski, wie kann es anders sein, noch sieben weitere in petto hat.

Man kann sich gut vorstellen, dass der Knaus Verlag nicht unbedingt die Notwendigkeit dieser Veröffentlichung gesehen hat, ein Nebenwerk im Oeuvre von Kempowski, eine Liebhaberausgabe. Man glaubt Eck aber die leicht zähneknirschende Aufrichtigkeit seiner Glückwünsche an den Kollegen, die er bezeichnenderweise fast noch vergisst: Nach seiner Rede erhebt er sich noch mal und bittet kurz um Gehör, um Wolff zu beglückwünschen. Immerhin hat Kempowskis Gattin Hildegard noch tröstende Worte für Eck parat: „Wer so potent ist wie mein Mann, der darf auch mal fremdgehen.“