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Archiv-Artikel

Hilfe nicht als Korsett

Weil sie es satt haben, dass Pflegedienstpläne ihre Lebensplanung behindern, organisieren Behinderte einen eigenen Assistenzdienst

Von ahle

Bremen taz ■ Sie hasst es, wenn ein Fremder ihre Küche putzt. Sie hasst es, um acht Uhr aufzustehen, sie hasst es, um Punkt zwölf zu duschen. Aber der Dienstplan des Pflegedienstes will es so. Und dieser Dienstplan regelt ihren Alltag. „Wer sein Leben im Rollstuhl verbringen muss, vermisst nicht nur die Macht über die eigenen Beine. Ihm fehlt außerdem die Freiheit, den eigenen Lebensablauf selbst zu bestimmen“, beschreibt Solveig Eisert von der Assistenzgenossenschaft, was viele Körperbehinderte nervt. Um das zu ändern hat sie zusammen mit anderen Betroffenen einen Dienst gegründet, der jenseits von „Pflege im Minutentakt“ eine individuelle Betreuung für Menschen mit unterschiedlichsten Beeinträchtigungen bietet. „Ich will keine Schokolade, ich will lieber Assistenz,“ heißt die Veranstaltung, zu der Eisert am kommenden Donnerstag insbesondere junge Leute einlädt.

Gerade für sie sei es schwierig, ihr Leben nach dem Dienstplan der Pflegedienste zu richten und die passive Rolle zu akzeptieren, die herkömmliche Betreuungskonzepte erfordern. Wer dagegen die persönliche Assistenz der Genossenschaft nutze, könne sich seine Pfleger selber aussuchen und bestimme gleichberechtigt mit ihnen, wie welche Hilfe wann und wo geleistet wird. Selbst wenn die Behinderung so schwer ist, dass eigene Wünsche nicht mehr recht formuliert werden können, bemühe man sich, auf individuelle Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen. „Wenn wir die Person schon lange kennen, fragen wir uns: Wie hätte sie selbst entschieden, als sie noch fit war,“ beschreibt Solveig Eisert, die selbst seit 33 Jahren im Rollstuhl sitzt, ihre Philosophie. Eine junge Frau im Wachkoma werde beispielsweise regelmäßig mit Hunden in Kontakt gebracht, weil sie immer schon ein Tierfan war.

Das Prinzip der Selbstbestimmung reicht bis in die Struktur der Assistenzgenossenschaft. Viele der 50 Betreuten sind gleichzeitig Mitglieder. Sie wählen alle zwei Jahre die Geschäftsführung, haben Einsicht in die Akten und bringen ihre Kritik und neue Ideen ein. Alleine sieben der zwölf Mitarbeiter in der Geschäftsstelle sind selbst körperbehindert.

Entstanden ist die Einrichtung bereits vor 13 Jahren aus der Bremer Emanzipationsbewegung um die „Krüppelgruppe“. Um auf die Behinderung von Behinderten aufmerksam zu machen, hatte sie den 80ern für Furore gesorgt: Aktive blockierten die Straßenbahnen, stürmten die Bürgerschaft, einige traten für ihre Sache in den Hungerstreik. „Wir wollten unsere Angelegenheiten selber in die Hand nehmen und weil die herkömmliche Betreuung damals keinen Raum dafür ließ, gründeten wir schließlich die Assistenzgenossenschaft.“ Anfangs diente ein schummriger Raum als Büro, sechs Aktive kümmerten sich um zwei Assistenznehmer. Heute sind es an die zweihundert, die Geschäftsstelle ist weitläufig und hell. Für Solveig Eisert ist das Ende der Fahnenstange trotzdem längst nicht erreicht: „Wir würden gerne umziehen. Irgendwohin, wo auch Platz für Versammlungen ist. Außerdem träume ich davon, einen Ausbildungsplatz für einen Körperbehinderten zu schaffen und mit den anderen Körperbehinderten auch kulturelle Arbeit zu machen.“ ahle

Informationsveranstaltung am 8. Mai zwischen 15 und 18 Uhr im Martinshof über das Konzept der „Pflege aus einer Hand“.