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Archiv-Artikel

Probe der Folterinstrumente

Eine Privatversicherung für Zahnersatz – das ist für Angela Merkel nur der Versuchsballon für weitere Privatisierungsmaßnahmen

CDU-Chefin Angela Merkel fordert, dass die Patienten zehn Prozent aller Kosten selbst tragen sollen

aus Berlin ULRIKE WINKELMANN

Wenn die Themen allzu dröge werden, verlegt sich die rot-grüne Regierungskoalition aufs Scherzen. „Wir sind den Umgang mit älteren und querköpfigen Herren gewöhnt“, sagte Grünen-Chefin Krista Sager gestern in der ersten Bundestagsdebatte zum Gesundheitsreformgesetz an die Adresse von Horst Seehofer (CSU) und lud den Unionsfraktionsvize „herzlich zur Diskussion“ ein.

Seehofer, 53, fehlte freilich aus Protest gegen den Privatisierungskurs seiner Fraktion und konnte deshalb nicht prompt auf diese freundliche Vereinnahmung reagieren. Dies tat dagegen Bundeskanzler Gerhard Schröder, 59, der als „SPD-Abgeordneter Schröder“ ums Wort bat und sagte: „Würden Sie mir gestatten, dass ich Ihre Bemerkung im Auftrag meines Innenministers, 70, entschieden zurückweise.“ Sager, 49, dazu: „Ich bin schon sehr beruhigt, dass Sie diese Äußerung nicht auf sich selbst bezogen haben.“ Da lachten sogar manche in der Opposition.

Zwei Stunden lang bemühte sich der Deutsche Bundestag gestern, über Gesundheitspolitik zu diskutieren. Doch waren die Reden für wie gegen den rot-grünen Gesetzentwurf nicht viel mehr als Glaubensbekenntnisse zu den Reformzielen: soziale Ausgewogenheit, Transparenz, „echter“ Wettbewerb, eine bessere medizinische Versorgung und so weiter. Der Gegenseite wurde jeweils unterstellt, das Gegenteil zu wollen. Sachargumente waren die Ausnahme.

Unionschefin Angela Merkel nannte „zwei ganz wesentliche Punkte“, die CDU und CSU nicht passten: Qualitätsmanagement dürfe nicht in einem staatlich kontrollierten „Zentrum für Qualität in der Medizin“ angesiedelt werden. Und der Zugang zu Haus- und Fachärzten dürfe „nicht unterschiedlich geregelt werden“. Insgesamt verortet die Opposition in der Reform der Gesundheitsministerin Ulla Schmidt zu viel „Zentralismus“ und „Dirigismus“, wobei der FDP-Gesundheitspolitiker Dieter Thomae diesen Vorwurf sogar zum Begriff „Überwachungsstaat“ steigerte.

Merkel verlangte im Namen der Union, dass Patienten 10 Prozent aller Kosten selbst trügen, maximal jedoch 2 Prozent vom Bruttojahreslohn: Außerdem sollte Zahnersatz zu einem einheitlichen Satz von 7,50 Euro für alle Erwachsenen privat versichert werden. Damit solle, sagte Merkel, „getestet werden“, wie die Privatisierung von Kassenleistungen funktioniere. Angesichts der demografischen Entwicklung, die die Sozialsysteme belaste, „müssen wir den Instrumentenkasten jetzt erproben“.

Im Übrigen brauche die SPD nicht so empört zu tun, „Sie wollten doch selbst das Krankengeld privatisieren!“, rief Merkel zur Regierungsbank. Tatsächlich hatte die SPD-Spitze bei der Formulierung der Reform-„Agenda 2010“ auch erwogen, Teile aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen herauszuschneiden und den Privatkassen zu überlassen – seien es Unfälle, Zähne oder eben das Krankengeld. Im Ergebnis soll das Krankengeld nun allein von den Arbeitnehmern bezahlt werden, jedoch bei den gesetzlichen Kassen verbleiben. Dadurch werden jetzt zwar die Arbeitgeber von Beitragspunkten ent- und die Arbeitnehmer entsprechend belastet, aber die Leistung nicht privatisiert.

An der Privatisierung zerstreitet sich gegenwärtig nicht nur die Union, der durch Horst Seehofers Aufstand der einzige wirkliche Gesundheitsspezialist vorläufig abhanden zu kommen droht (siehe Kasten). Zentral ist diese Frage auch für die Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition um das Reformgesetz. Denn statt einer Beschneidung durch Privatisierung setzt Rot-Grün mittelfristig auf eine Ausweitung der gesetzlichen Krankenversicherung – dazwischen gibt es schlichtweg keinen Kompromiss.

Doch jedenfalls für die Kameras und den guten Ton verwendeten Regierung und Opposition gestern vielfältige Formeln, um einander „ehrliche Angebote“ zu machen. SPD-Fraktionschef Franz Müntefering gab zu: „Wir wissen, dass wir bei der Reform des Gesundheitswesens auf Zusammenarbeit angewiesen sind.“ Er mahnte in Richtung Merkel: „Der Vermittlungsausschuss ist nicht immer der richtige Weg“, um Gesetze durch den unionsdominierten Bundesrat zu bekommen. Er bot sogar an, den Terminplan für die Gesetzgebung zu verändern, wenn die Union in Beratungen eintrete. Geplant war bislang, das Gesetz in der kommenden Woche im Gesundheitsausschuss zu diskutieren und am 8. Juli im Bundestag durchzustimmen. Wenn es anschließend im Bundesrat scheitern würde, würden Verhandlungen im Vermittlungsausschuss im Herbst stattfinden.

Merkel reagierte darauf: „Wir können sofort und heute nach der Debatte vereinbaren, wie wir im Ausschuss vorgehen.“ Allerdings könne die Gesundheitsministerin Ulla Schmidt nicht erwarten, dass am Ende ihr Gesetz unverändert aus den Verhandlungen herauskomme. Die Union müsse sich schon wiederfinden. „Auf gute Zusammenarbeit – an uns soll es nicht liegen“, sagte sie. Die CDU-Abgeordnete Annette Widmann-Mauz ergänzte die Worte ihrer Fraktionschefin später noch. „Keine große Koalition, aber eine große Kooperation“ biete ihre Fraktion der Regierung an.

Was aber aus all den Willensbekundungen folgt, ist bislang nicht abzusehen. In der rot-grünen Koalition wird längst darüber nachgedacht, ob und wie das Reformgesetz zerlegt werden kann: in Teile, für die man die Zustimmung des Bundesrats und also der Union braucht, und Teile, die ohne Bundesrat im Bundestag durchgestimmt werden können. In diesem Sinne ließ sich gestern auch die Drohung der grünen Fraktionschefin Krista Sager an die Opposition verstehen: „Wenn Sie sich verweigern, dann werden wir eigene Mehrheiten aufbringen.“