Verantwortung statt Mitgefühl

Wie die Vergangenheit in die Gegenwart ragt: Mit ihrem Dokumentarfilm „Route 181 – Fragmente einer Reise in Palästina-Israel“ erinnern Eyal Sivan und Michel Khleifi an die Vertreibung der Palästinenser vor über 50 Jahren

Die Resolution 181 wurde am 29. November 1947 verfasst. Knapp und präzise ist der Teilungsplan Palästinas in dem Papier formuliert und auch die Bedingungen zur Errichtung eines jüdischen Staates: „Die Mandatsmacht soll die größten Anstrengungen unternehmen, um sicherzustellen, dass ein Gebiet innerhalb des jüdischen Staates mit einem Seehafen und Hinterland, ausreichend, um Möglichkeiten für eine größere Einwanderung zu schaffen, zum frühestmöglichen Zeitpunkt – keinesfalls jedoch später als bis zum 1. Februar 1948 – geräumt wird.“ So weit die guten Absichten der internationalen Völkergemeinschaft vor 56 Jahren.

Vor diesem Hintergrund ist „Route 181“, der von dem in Paris lebenden israelischen Filmemacher Eyal Sivan und seinem palästinensischen, in Belgien lebenden Kollegen Michel Khleifi gedrehte Dokumentarfilm, alles andere als eine Polemik. Eher schon ein Mahnmal, eine Erinnerung an die versprochene Bereitstellung eines Territoriums für das palästinensische Volk, dessen Recht auf Selbstbestimmung immer noch nicht anerkannt ist. An dieser Überzeugung der beiden Filmemacher ändern auch die Intifada, der andauernde Terrorismus der Selbstmordattentäter und die Diskussion über die Legitimität der Ermordung führender Hamas-Mitglieder oder selbst Arafats nichts.

Denn „Route 181“ will keinesfalls Position für eine der beiden Parteien beziehen, zumal die Fronten ohnehin in sich vielfach gebrochen sind. Stattdessen zeigt die viereinhalbstündige Abfolge von Interviews und langsamen, vom Auto aus gefilmten Kamerafahrten entlang der Demarkationslinie, was jenseits allen Furors und aller Schreckensnews existiert: eine Grenze, die jeder kulturellen und gesellschaftlichen Logik zuwiderläuft und deshalb niemals eine Lösung sein wird, sondern höchstens eine Mauer mehr, die die beschädigten Verhältnisse zementiert. Sivan und Khleifi sehen trotzdem eine Chance, für sie ist die Situation im Nahen Osten ein „von Menschen gemachtes ideologisch-pathologisches Konstrukt“, das „daher auch wieder aufgehoben werden kann“. Insofern sucht „Route 181“ zuallererst einmal die Möglichkeit, miteinander ins Gespräch zu kommen.

Tatsächlich haben sich viele an diesem Austausch beteiligt, sodass der Film schließlich in drei Episoden zerschnitten werden musste: in den Süden, das Zentrum und den Norden. Die israelischen Bauarbeiter, die im Süden des Landes neue Hochhäuser bauen, kennen nur Verachtung für die Palästinenser von gegenüber, während ein palästinensischer Landvermesser ungerührt von allen Anfeindungen mit der Kolonne arbeitet, gerne mit jüdischen Mädchen ausgeht und ansonsten auf einen besser bezahlten Job in den USA hofft. Allmählich nimmt das historische Dilemma die Konturen der Gegenwart an, wird in den Gesprächen von israelischer Seite immer wieder betont, dass die Vertreibung der Palästinenser vor über 50 Jahren rechtens war. Vergessen hat sie allerdings auch keiner, fast scheint es, als läge die Bedrohung darin, dass man sich ständig an die früheren palästinensischen Nachbarn erinnern muss, weil sie heute fehlen. Ohne es aussprechen zu müssen, ist „Route 181“ in solchen Momenten ein subtiler Appell an den Wunsch nach Begegnung, der offenbar im kollektiven Unterbewusstsein vieler Israelis sehr lebendig ist.

Es gibt jedoch auch andere Sichtweisen. Da sind die Veteranen, die im ersten israelisch-arabischen Krieg als Soldaten dienten und auch im hohen Alter jederzeit wieder gegen die Palästinenser kämpfen würden. Ihnen widmet sich eine lange Sequenz im zweiten Teil, bei der ein Friseur und seine Kunden von der Vergangenheit sprechen. Kurz darauf sieht man ohne jeden Kommentar in einer schmerzlich gedehnten Zeitlupe reihenweise Eisenbahngleise.

Diese offenkundige Parallele zu einer Szene in Claude Lanzmanns „Shoah“ hat im März zum Eklat geführt: Prominente französische Intellektuelle, unter ihnen Bernard-Henry Lévy, protestierten gegen eine geplante Aufführung des Films, weil er ihrer Meinung nach „sehr bezweifelbare und sehr bezweifelte historische ‚Wahrheiten‘ “ vermittle und außerdem die „öffentliche Debatte über den israelisch-palästinensischen Konflikt vergifte“. Daraufhin schlossen sich wiederum linke Kulturschaffende vom Philosophen Etienne Balibar bis Jean-Luc Godard zusammen, um mit einer Unterschriftenaktion die Wiederaufnahme von „Route 181“ ins Filmprogramm des Pariser Centre Pompidou zu erwirken. Auf den Vergleich zwischen Holocaust und Palästinenser-Vertreibung angesprochen, erklärte Eyal Sivan im Interview mit Le Monde: „Eine Analogie ist kein Vergleich. Zu sagen, dass das nicht vergleichbar ist, das ist bereits ein Vergleich.“

Der Streit um Deutungshoheiten mag berechtigt sein. Viel deprimierender sind im Film jedoch die Aussagen von älteren jüdischen Einwanderern aus Marokko oder Tunesien. Sie wurden noch in den Fünfzigerjahren vom Staat Israel für die Siedlungen im Norden angeworben; heute leben sie in einem Randgebiet: kaum 300 Menschen, abgetrennt von beiden Gesellschaften. Für die einen sind sie der verhasste Feind, für die anderen kaum mehr als eine Pufferzone. Nicht einmal eine Rückkehr in ihre früheren Herkunftsländer kommt in Frage, da sie deren Staatsbürgerschaft verloren haben. So harrt man hilflos aus, im Schatten der Mauer. Spätestens an dieser Stelle des Films weiß man, was Sivan meint, wenn er davon spricht, dass es ihm um Verantwortung, nicht um Mitleid geht. Die israelische Regierung wird sich solche enttäuschte Kritik desillusionierter Emigranten anhören müssen, solange sie nicht auch in ihrem Interesse handelt. Schließlich gehört der Wunsch nach Toleranz und Versöhnung mit dem Nachbarn nicht bloß zum Repertoire sentimentaler Minderheiten, sondern zum Grundgerüst einer Demokratie. HARALD FRICKE