Heiß bollert mein Herz

Jugendlich sein, ohne zu wissen, was man begehrt. Irgendetwas ist in einem, was zu dem, was die anderen zu fühlen scheinen, nicht passt. Scheiße, alles eine große Scheiße. Hilft Sport? Nur bedingt. Unter der Dusche müssen Fantasien bekämpft werden. Aber warum? Müssen die Karten ganz anders gemischt werden?

von KLAUS CHATTEN

Eins. Gestern im Gard Haarstudio lief alles glatt, aber heute funktioniert das verfluchte Dalli-Klick wieder nicht. Zur Überbrückung spielt die Götz-Wendlandt-Combo. Es regnet in Strömen. Reiner und ich haben in seinem Spielzimmer ein Indianerzelt aufgebaut. Die Kanalisation hält die Sommergewitter nicht aus. Die Scheiße kommt hoch. Wir ziehen unsere Gummistiefel an und fragen, ob wir mit nach draußen dürfen.

Alle versuchen, ihre Keller mit Holzbrettern abzudichten. Aber es ist wie immer aussichtslos. Die Erwachsenen tragen ihre gelben Ostfriesennerze und ackern sich mit Rauhaarbesen ab, um den Schaden möglichst gering zu halten. Reiner und ich paddeln mit unserem Schlauchboot durch grün-graue Kacke, Toilettenpapier und andere Pfundstücke. „Eine Lümmeltüte“, sagt Reiner und zeigt auf einen gummiartigen Schlauch. Unsere triefenden Väter unterbrechen ihre Arbeit und lachen heiser. „Dat is vom Venohrs Christiane“, kichert Nolten-Hansi, den es beim Hochwasser immer am schlimmsten erwischt, guttural und verweist auf den begehrtesten weiblichen Teeanager der Nachbarschaft, um den offenbar die Fantasien aller erwachsenen Männer aus unserer Straße kreisen.

Hansis Keller liegt im Souterrain und wird jedes Mal völlig überschwemmt. Sobald es zu regnen beginnt, rennen alle zu ihm und retten die Kästen Veltins und die Kühltruhe mit dem Schöller-Eis. Er ist in Rente und verdient sich mit dem Eis- und Getränkeverkauf ein Taschengeld dazu. Sonntagmorgens nach dem Hochamt sitzen alle Männer aus unserer Straße bei ihm im Keller zum Frühschoppen.

Meine Mutter weigert sich, dorthin hinunterzusteigen und meinen Vater für das Mittagessen auszulösen. Deshalb schickt sie – kurz bevor die Markklößchensuppe in unseren Tellern kalt wird – mich. Ich soll Fürst-Pückler-Eis kaufen. Die Kumpels meines Vaters ziehen mich nah an sich heran, rülpsen mir ihre schweren Bier- und Schnapsfahnen ins Gesicht und hänseln mich wegen meiner mädchenhaften Verschrecktheit. Dann schenken sie mir ein Florida Boy.

Wenn der Keller in der Woche von Kot überschwemmt wurde, sitzen die Alten Kameraden am Sonntag darauf mit Tempotaschentuchfetzen in der Nase in ihren eigenen Ausscheidungen, die eingetrocknet an den Wänden kleben, und reden so, als ob sie alle eine Hasenscharte oder zumindest Polypen hätten oder Stan Laurel wären. Das finde ich lustig.

Manchmal, wenn mein Bruder übers Wochenende mit seinem Mokick zelten oder in eine Jugendherberge fährt, schläft Reiner bei mir. Wir schieben uns Bocciakugeln unter die Schlafanzüge und spielen „Hanni und ihr Freund“. Hanni ist die Frau des besten Freundes unserer Väter und betrügt ihren Mann mit einem Italiener. Wir legen uns aufeinander und reiben uns durch unsere Frotteeschlafanzüge aneinander und sagen dabei immer wieder mit ausländischem Akzent „Hanni, Hanni“, bis wir uns langweilen.

Reiner und ich bessern unser Taschengeld auf, indem wir bei Hochzeiten Seilchen spannen, auf Beerdigungen Totenblättchen verteilen oder für die Arbeiterwohlfahrt kleine Ansteckblumensträußchen verkaufen. Wenn im Kino im Nachbardorf ein Film läuft, der ab sechs freigegeben ist, gehen wir sonntagnachmittags um drei in die Vorstellung. Mein Lieblingsfilm ist „Is’ was, Doc?“ mit Barbra Streisand und Ryan O’Neal, Reiners „Die Abenteuer des Rabbi Jacob“ mit Louis de Funès.

Zwei. Es ist Mai, und es ist warm. Wir sind fünfzehn und stehen auf dem Bolzplatz. Ein hoher, grüner Maschendrahtzaun sichert die umliegenden Häuser vor unseren Fehlpässen. Es hat geregnet. Wir sind nass. Mein Cousin legt sich den Ball zu einem Elfmeter zurecht. Jogi steht im Tor. Die Sonne kommt wieder durch die Wolken. Wegen der Wasserflecken kann ich durch meine Brille nichts sehen. Ich nehme sie ab und trockne die Gläser an einem Fetzen meines rosa Sweatshirts.

Uli läuft an. Hinter dem Tor, hinter dem Maschendrahtzaun auf dem angrenzenden Kinderspielplatz steht Sabine, Hubertus’ Schwester. Ich weiß nicht, in wen ich im Augenblick mehr verliebt bin, in sie oder in ihren Freund Jochen. Jochen und ich waren zusammen auf der Grundschule in einer Klasse. Jetzt trainieren wir gemeinsam im Leichtathletikverein. Wenn wir nach dem Training zusammen unter der Dusche stehen, denke ich immer an den Plastikeimer voll Scheiße, den mein Großvater über unseren Hausflur in die Toilette schleppt.

Meine Oma ist von Wasser aufgeschwemmt und kann sich mittlerweile nur noch schwer bewegen. Wenn sie sich aufs Klo setzt, kommt sie nicht mehr hoch. Deshalb scheißt sie in ihrer Küche im Stehen, und mein Großvater hält ihr den blauen Eimer unter den Hintern. Die Erinnerung an den Ammoniakgeruch hilft. Jochen ahnt nicht, wie oft ich mir vor dem Einschlafen grundlos Clearasil ins Gesicht schmiere, um matt an den Geruch erinnert zu werden, der ihn umgibt wie eine schwere Damastdecke.

Sabine hat große Brüste und spricht mit norddeutschem Akzent. Sabine ist ein guter Mensch. Sie ist die Erste, die mir zuhört. Zwischen meinen Sätzen und ihren Antworten schweigt sie. Das ist neu. Sie denkt nach. Sie bringt als erste eine Stille in mein Leben, die nicht droht. Eine Stille, die neugierige Augen hat, die sanft und begeistert flattert wie ein schönes Schwalbenweibchen im Wind.

Diese Stille macht mir Angst. Von dieser Stille bekomme ich Herzrasen. Aber deshalb bin ich in sie verliebt. Jochen schläft mit ihr. Ich kann mir nicht vorstellen, in Sabine einzudringen. Ich kann mir vorstellen, sie zu streicheln, sie zu küssen, aber ich kann mir nicht vorstellen, in sie einzudringen. Jochen kann das. Deshalb sind sie zusammen. Ich kann mir auch nicht vorstellen, in Jochen einzudringen, oder mir vorstellen, dass er in mich eindringt.

Nach der Scheidung ihrer Eltern ist Sabine mit ihrer Mutter als Zweijährige nach Norddeutschland gezogen. Hubertus blieb bei seinem Vater und seiner Stiefmutter hier bei uns im Dorf. Nach dem Tod von Sabines Mutter vor ein paar Monaten zog Sabine zurück. Neben ihr am Maschendrahtzaun steht Renate, die mit Jogi zusammen und in die mein Cousin verliebt ist. Sabine, Renate, Hubertus, Jogi, mein Cousin und Jochen gehen auf die Realschule.

Ich bin der einzige Gymnasiast. Die Sonne wärmt meinen Hinterkopf. Ich drehe mich um. „Ein Regenbogen“, sage ich. Alle blicken in Richtung Bergwerk. Nur mein Cousin nicht. Er verwandelt gegen den verdutzten Jogi seinen Elfmeter. „Ich werde euch niemals vergessen“, sage ich zusammenhanglos. Alle bis auf Jogi sehen mich ungläubig an. „Das Tor ist ungültig“, sagt Jogi zu meinem Cousin, „wenn du das noch einmal machst, hau ich dir eins auf die Schnauze!“

Drei. Ich presse meine Fäuste in die Taschen meines grünen Trenchcoats, klettere über den flachen Jägerzaun und steige über die Schienen. Leichter Novembernebel weht über den Boden. Im Dunkeln stolpere ich über die braunen Schottersteine, lasse die Brücke rechts liegen und nehme so, da die Bahnstrecke parallel zur Hauptstraße und unserem Haus verläuft, die verbotene Abkürzung.

Alle Signale – bis auf eines – stehen auf Rot. Hinter mir rattert ein Güterzug in Richtung Frankfurt am Main. Erst an unserer Wohnungstür beruhigt sich das Hämmern in meiner Brust. Kurz nach eins. Wortlos stöhnt Mutter vor mir die Treppe hinauf. Die Dauerwelle von dem blauen Haarnetz eingeschnürt. Sie ist jetzt 53. „Nacht“, sage ich.

Ich nehme die Kontaktlinsen heraus, putze mir die Zähne, drücke leise den Türknauf zum Zimmer meines Bruders herunter und schleiche in mein Nest. Für ein paar Minuten knipse ich die Schreibtischlampe an und blättere im Merian-Heft von der Côte d’Azur. Wie ein Omen künftigen Glücks liegt der lila Luftballon, den ich in den letzten Herbstferien in München im Zirkus Roncalli gefangen habe, immer noch – nunmehr verschrumpelt – auf meiner Arbeitsplatte.

München! Roncalli! Und die Kammerspiele! Vor mir an der dunkelbraunen Wand Weichzeichnerpostkarten. Provenzalische Lavendelfelder und David Hamilton. Bilitis. Zärtliche Cousinen. Leise summe ich „Der Räuber und sein Prinz / aha“, von DAF. Den Tag nach den Ferien werden wir eine Französischklausur schreiben.

Ich schlage die erste Seite von Camus’ „Der Fremde“ auf: „Aujourd’hui, maman est morte. Ou peut-être hier, je ne sais pas. J’ai reçu un télégramme de l’asile: Mère décédée. Enterrement demain. Sentiments distingués …“

Ich ziehe mir den mauvefarbenen Benetton-Pullover über den Kopf, knöpfe das Oberhemd auf, streichle meine glatte, unbehaarte Brust und die Warzen, lecke meine sehnigen Oberarme ab und schnuppere daran. Seit drei Wochen bin ich achtzehn Jahre alt. Ich rieche gut. Aber es gibt niemand, der mir das sagt, niemand, der zusammen mit mir achtzehn Jahre alt ist und der das ebenfalls zum Kotzen findet.

Vier. Nichts als das Schweigen der von der Hitze erschöpften Vögel und mein Keuchen hallen durch den Wald. Vor den magnesiumweißen Sonnenstrahlen, die sich immer wieder fächerartig in den Weg werfen, kneife ich die Augen zu. Wie schwarze Lanzen fallen die Schatten der Tannen auf den Boden. Heiß bollert mein Herz gegen mein rosa Sweatshirt, klamm klebt der Stoff an meinem Oberkörper. Ich glühe.

Wenn ich den Kopf schüttle, fallen die Tropfen haarfein-feucht an mir herunter. Die Morgenluft steht. Links von mir am Hang plätschert ein Bach. Es ist sieben Uhr. Irgendwo auf der anderen Seite der Steigung hämmert ein einzelner Schlagbohrer. Der braune Nadelboden federt meinen Lauf ab. Ich denke an Michael Yorks nackten, haarlosen Oberkörper und sein schüchternes Lächeln in „Cabaret“.

Samstag ziehe ich nach Berlin.

KLAUS CHATTEN, Jahrgang 1963, Schriftsteller sowie Theater- und Drehbuchautor („Das Karussell“, „Sugar Dollies“), kam 1982 nach Berlin. Aufgewachsen ist er in einer Bergarbeiterfamilie in Lennestadt/Sauerland