: Hausbesetzer unter der Akropolis
Im Windschatten der Akropolis klebt das winzige Dörfchen Anafiotika am Stein. Kleine, ineinander verschachtelte Häuser. Im höchstgelegenen Haus dieser Miniaturwelt wohnt und arbeitet seit vielen Jahren der Architekt Christos Papoulias
Interview GERO GÜNTHER
taz: Wie sind Sie hier oben gelandet?
Christos Papoulias: Ich hatte damals in Italien studiert, und als ich nach langer Zeit nach Athen zurückkam, war die Stadt sehr verändert. Die Entwicklung in den 60er- und 70er-Jahren war rasant. Geboren wurde ich in einem neoklassischen Gebäude. Das gab es bei meiner Rückkehr nicht mehr.
Mögen Sie Athen eigentlich?
Ich habe Athen erst in jüngster Zeit schätzen gelernt. Egal wie weit man rausfährt, hier gibt es keine Vorstädte, kein suburbia. Athen besteht aus lauter kleinen Zentren, kleinen Welten. Alles ist sehr lebendig.
Aber das Ergebnis ist auch eine sehr monotone Stadt.
Eine endlose Linie, ein großer Fels. Von außen sieht die ganze Stadt überall gleich aus. Nur innen verändern sich die Dinge. Wissen Sie, wir haben hier eine sehr seltsame Art, Wohnungen zu bauen. In den 50er-Jahren hatte der Präsident beschlossen, dass der Staat zu arm ist, um die Menschen mit Wohnungen zu versorgen. Es entstand ein einzigartiges Phänomen: Nehmen wir an, Ihnen gehört ein altes Gebäude. Sie überschreiben es einem Bauunternehmer, der es vergrößern will, und bekommen dafür 50 bis 60 Prozent der Apartments, wenn der Wohnblock fertig gestellt ist. Sie können also weiter in dem Gebäude wohnen und bekommen dann die Miete aus den Wohnungen, die Ihnen gehören. Nach diesem Prinzip wurde ganz Athen gebaut. Eine sehr billige Methode. Angewandter Modernismus. Keine Ästhetik, keine Seele. Eine uniforme Masse.
Von den Aussichtspunkten aus sieht Athen wie ein grauer Ozean aus.
Ja, eine Decke, die das ganze Tal bedeckt. Der gleiche Typ von Gebäuden.
Da zogen Sie das idyllische Anafiotika vor?
Anafiotika wurde von kykladischen Bauarbeitern gebaut, die von den Inseln kamen. Diese Leute waren um 1840 nach Athen eingeladen worden, weil sie als gute Bauarbeiter bekannt waren. Sie haben fast alle öffentlichen Gebäude der Stadt errichtet. Bei ihren eigenen Häusern verweigerten sie sich dem Neoklassizismus in dieser Frühphase des griechischen Staats. Sie haben den Felsen als ihre Insel verstanden, weil die Kykladen – wie Sie wissen – ja sehr felsig sind. Sie haben organisch gebaut, völlig gegen den Trend der damaligen Zeit. Mir war es wichtig, an einem Ort zu wohnen, den man immer wieder neu entdeckt, mit Zimmern, die der Landschaft folgen.
Ein klassischer Fall von „Architektur ohne Architekten“?
Ja, aber diese Männer von den Kykladen waren Bauarbeiter, verstanden die Grundkonzepte der Raumaufteilung. Sie wussten, wie man Häuser in den steilen Fels baut. 160 bis 180 Leute lebten hier damals.
Und heute?
60, 65 Menschen. Wir besitzen diese Häuser nicht. Die Bauarbeiter haben die archäologische Stätte damals einfach besetzt. Es war völlig illegal und wurde nie legalisiert. Deshalb können wir die Häuser nicht reparieren. Und alles um uns herum ist verlassen.
Also sind Sie eigentlich Hausbesetzer?
Der Staat möchte uns raushaben, aber die Motiviation, uns hier rauszuwerfen, ist nicht sehr stark, weil sie keinen wirklich sinnvollen Verwendungszweck für Anafiotika haben. Außerdem hat die Presse uns immer gegen jede Entscheidung verteidigt, das Dorf abreißen zu lassen. Die Schönheit hat gesiegt. Die Athener gehen hier einfach gerne spazieren, und die Leute sind sich bewusst, dass dieser Ort hier einen sehr starken sozialen Zusammenhalt hat. Einen Zusammenhalt, den andere Viertel in Athen längst verloren haben.
Eine richtige Mikrogesellschaft.
Ja. Die meisten Bewohner sind ehemalige Besitzer. In den Siebzigern gab es eine Enteignung unter der Militärdiktatur, und der Staat hat versucht, die Menschen rauszuwerfen, was ihm aber nicht gelang. Manche Leute haben eine Abfindung angenommen, und diese Häuser gehören nun dem Staat, andere nicht. Aber selbst, diejenigen, die ihre Häuser „verkauft“ haben, sind später einfach wieder eingezogen.
Ein unsicheres Leben.
Ja, aber wir haben eine Vereinigung gegründet, deren Präsident ich bin. Und einen Kampf haben wir bisher zumindest gewonnen: Die Vorsitzende der archäologischen Gesellschaft der Akropolis hatte dem Ministerium vorgeschlagen, das Informationszentrum der Olympischen Spiele in Anafiotika einzurichten. Es war einfach, diesen Streit zu gewinnen, weil man hier gar keine öffentlichen Institutionen unterbringen kann. Es gibt ja keine Aufzüge, keine Rampen, nichts. Unmöglich, ein Disneyland- Traum. Der Minister hat uns Recht gegeben. Und wir haben gesagt: Wenn ihr einen guten Grund findet, uns rauszuwerfen, werden wir gehen. Aber nicht wegen so einem Mist.
Bedeutet es Ihnen etwas, so nah an der Akropolis zu arbeiten und zu leben?
Energie! Die Kraft des Felsens. Und die Tatsache, in organischen Räumen zu leben. Keine kommerziellen Räume. Das ist für mich sehr wichtig als Architekt. Und es ist wichtig für mich, morgens ins Bad zu gehen und den Felsen zu spüren. Drei, vier Kuben in verschiedenen Positionen – da entstehen Ideen. Man fühlt, wie das Terrain strukturiert ist.
Wie beurteilen Sie die Veränderungen, die Athen derzeit im Hinblick auf die Olympischen Spiele 2004 durchlebt?
Was die Infrastruktur angeht, verändert sich Athen sehr stark. Unter anderem werden zwei große Achsen gebaut, die die Verkehrssituation deutlich verbessern werden. Ansonsten wird sich an Teilen der Küste einiges tun. Einer Gegend, die über viele Jahre lang völlig brachlag. Die Gebäude und Sportanlagen selbst sind nicht gerade spektakulär – mal abgesehen von dem Projekt von Calatrava. Alle anderen Gebäude sind von keinerlei architektonischem Interesse. Dieser Staat hat kein Interesse an Architektur als Kunstform, es geht lediglich um die technische Produktion von Räumen. Man gibt das Geld den großen Bauunternehmen, und der Architekt ist Angestellter dieser Firmen. So wird ganz Griechenland gebaut. Wir ernsthaften Architekten werden von diesem Kreislauf ausgeschlossen. Ich baue deshalb nur für private Bauherren.