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Archiv-Artikel

„Krankhafte Fixierung auf Arbeit“

Müssten die Deutschen tatsächlich mehr arbeiten? Der Bremer Soziologe Holger Heide meint, das Verhältnis Mensch zu Arbeit stimme schon längst nicht mehr. Arbeitssucht sei zur – gewollten – gesellschaftlichen Normalität geworden

taz: Alle reden davon, dass wir mehr Arbeit brauchen. Sie beschreiben es aber als Problem, dass die Menschen schon längst süchtig nach Arbeit seien.

Holger Heide: Wenn man in die Betriebe geht, kann man feststellen, dass die Arbeitnehmer unter Druck sind: im Sinne von Stress, interkollegialem Stress, bis hin zu Mobbing. Trotz statistisch belegbarem Rückgang der Abwesenheitsquote – unter anderem wegen der hohen Arbeitslosigkeit – verschlechtert sich der Gesundheitszustand der Beschäftigten. Da stimmt etwas nicht mit dem Verhältnis der Menschen zur Arbeit. Das ist zunächst offensichtlich äußerem Druck geschuldet. Die Unternehmen passen sich dem steigenden Druck der Konkurrenz auf dem Weltmarkt an. Es zeigt sich aber, dass der bloße Verweis auf den äußeren Druck zur Erklärung nicht reicht. Wir haben die Normen der Arbeitsgesellschaft weitgehend verinnerlicht. Das heißt, wir sind anfällig für Arbeitssucht.

Sie nennen Arbeitssucht eine Volkskrankheit. Und in der Tat könnte der Terminus „Abhängig Beschäftigter“ auch auf den Drogencharakter hinweisen. Ist ein Impfstoff in Sicht?

Nur wenige Krankheiten lassen sich durch die Verabreichung einer Arznei heilen. Meist werden bloß die Symptome gedämpft. Und was wichtiger ist: Arbeitssucht ist gewollte gesellschaftliche Normalität. Höchstens „Auswüchse“ werden als bedenklich registriert, und als Auswüchse erscheinen „unerwünschte „Nebenwirkungen“: Bluthochdruck, Magengeschwüre, Kreislaufprobleme, Rückenleiden und viele weitere Leiden, über die jeder Betriebsarzt sich Sorgen macht.

Wie zeigt sich Arbeitssucht?

Arbeitssucht ist eine krankhafte Fixierung auf Arbeit. Wie bei anderen Süchten steckt dahinter meist unbewusst ein Ausweichen vor unerträglichen Gefühlen. Gerade aufgrund der hohen gesellschaftlichen Akzeptanz von Arbeit liegt es nahe, dass ich mich in Arbeit „stürze“. Aber auch die entgegengesetzte Reaktion ist häufig: Die Vorstellung, Leistungen erbringen zu müssen, kann so stark werden, dass man in einen Zustand fast völliger Arbeitshemmung geraten kann. Kollegen und Familienmitglieder erkennen das Suchttypische meist daran, dass sich die Betroffenen isolieren, für nichts außer der Arbeit Zeit und Interesse haben.

Ecstasy, Schnaps und Heroin kann man absetzen. Beim Verdienen des Lebensunterhalts sieht das anders aus. Welche Möglichkeiten hat der Arbeitskranke, gesund zu werden?

Absetzen ist nicht Gesundung, es geht auch bei Heroin letztlich um die Heilung der seelischen Krankheit. Einen Job zu machen, der einem Krankheit und perspektivisch den Tod einbringt, kann wohl nicht mit dem Hinweis auf den notwendigen „Lebensunterhalt“ gerechtfertigt werden.

War früher alles anders oder womöglich sogar besser? Beurteilen Sie also die Produktivitätsfortschritte eher negativ?

Da müssten wir über den Begriff „Produktivität“ reden und darüber, welchen Sinn es macht, diese ständig zu erhöhen. Erinnern Sie sich an den Satz von John Stuart Mill, der zur klassischen englischen Soziologie gehört: „Es ist fraglich, ob alle bisher gemachten mechanischen Erfindungen die Tagesmühe irgendeines menschlichen Wesens erleichtert haben.“ Und damit meinte er: Zwar wird der technische und wirtschaftliche Fortschritt immer als Fortschritt des Menschen oder der Menschheit ausgegeben. Aber wie wir in der Phase der industriellen Revolution gesehen haben, wirkt sich das immer auf einen Teil der Menschheit extrem destruktiv aus. Ich versuche, mit dem Missverständnis aufzuräumen, früher sei alles ganz schrecklich gewesen. Die Vorstellung, man habe heute mehr Freizeit als früher, ist schlichtweg falsch. Aber wir müssen ausgehen von dem, was jetzt ist: Ich muss wieder anfangen zu spüren, was für mich gut ist. Wenn ich merke, es wird von mir verlangt – ich selbst verlange es sogar von mir –, täglich zwölf Sunden arbeiten zu gehen, und ich merke, wie ich dabei draufgehe, die Kontakte zur Familie abreißen oder Herzprobleme auftreten, dann muss ich sagen: Irgendwas läuft falsch. Hier geht es nicht um mehr Geld, sondern um existenzielle Probleme.

Was halten Sie von den „glücklichen Arbeitslosen“ und deren Konzept „Wozu sich um Arbeit reißen“?

Das ist sicher eine Popularisierung. Aber nicht unbedingt falsch. Es bietet eine Möglichkeit, sich mit dem Begriff „Arbeit“ auseinander zu setzen, zunächst einmal für die, die arbeitslos und dem unmittelbaren Druck der Stigmatisierung tatsächlich massiv ausgesetzt sind. Dass sie zu dem Ergebnis kommen: Arbeitslosigkeit ist von uns nicht erwünscht, aber wir können die Zeit, die wir jetzt haben, zu unserem Vorteil nutzen. Das würde einen Teil des Stresses auch aus der Arbeitswelt nehmen. Diejenigen, die Arbeit haben, müssten sich mit denselben Fragen auseinander setzen und verstehen, dass Solidarität nicht einfach warmherzige Anteilnahme ist, sondern dass diese Gesellschaft ein grundlegendes Problem hat: Um aus der Suchtgesellschaft herauszukommen, um uns die Muße wieder anzueignen, brauchen wir neue solidarische Formen von Individualität und Kollektivität jenseits von „Interessenvertretung“ und „Politik“.

INTERVIEW: JÜRGEN KIONTKE