: Die Moderne schleicht sich
Die Elite friert am Arsch in der Wissenschaftsakademie Berlin, und Christian Kracht trägt Luxuswissen vor: Wer mit wem in einer Mailänder Winternacht zusammengesessen hat. Irony mag zwar over sein, Kracht ist es noch lange nicht
Immerhin: Dass man für Christian Kracht weder Mitleid noch Verachtung empfinden muss, macht ihn zu einer Ausnahme unter den ehemaligen Pop-Literaten des Tristesse-Royal-Zirkels. Während sich Benjamin von Stuckrad-Barre auf sein multimediales Outing als geläuterter Kokainist vorbereitet, frönen die alten Adlon-Kollegen Eckart Nickel und Joachim Bessing immer unverblümter der Reaktion. Ersterer bevorzugt im SZ Wochenende, dem neuen Zentralorgan der neokonservativen Kulturkritik, Zweiterer mit einem als „Provokation“ vermarkteten Plädoyer für die Renaissance traditioneller Familienwerte. Schade nur, dass Bessings Thesen zum „Mythos der heilen Patchworkfamilie“ zumindest im Berliner Nachtleben weit weniger kontrovers diskutiert werden als sein Ausgehlook, der sich Augenzeugenberichten zufolge irgendwo zwischen Chemielaborant und Marc Dutroux eingependelt zu haben scheint.
Ganz anders Kracht: ein moderner Klassiker mit gesunder Bräune, der bei jedem seiner Berlinbesuche gleich mehrfach Hof halten kann, ohne dass der Strom seiner Bewunderer abreißen würde. Dienstagabend gab er eine Lesung obszöner Werke im Literaturcafé Eggers und Landwehr, am Mittwoch schmückte er die Jury-Präsentation zur Wahl des schönsten Wortes der deutschen Sprache, und am Samstag folgte dann der vorläufige Höhepunkt der diesjährigen Kracht-Festspiele: die Eröffnungsvorlesung zum Designstudiengang der Wissenschaftsakademie Berlin. Thema: „Memphis. Die letzten spastischen Zuckungen der Moderne“. Memphis war ein Designkollektiv in Mailand, die private Wissenschaftsakademie wird von dem Möbel-Magnaten Rafael Horzon getragen – kongeniales Zusammentreffen von Ort und Thema.
Dass die Studienbedingungen der Akademie allerdings nicht ganz dem vorab postulierten Anspruch, eine Elite-Universität zu sein, genügten, schien dabei niemanden zu stören. Wenn schon der Dozent allein fürs Elitäre bürgt, nimmt man auch gerne auf dem kalten Steinfußboden eines überfüllten Seminarraums Platz. Und da Elite auch immer Eile bedeutet, bekam manch ein Kracht-Fan nur noch die letzten Zuckungen seines höchstens 20-minütigen Dia-Referats mit.
Was genau die meist babyblauen und quietschgelben Möbelentwürfe des 80er-Jahre-Designkollektivs Memphis mit dem Ende der Moderne zu tun hatten, ließ Kracht offen. Auch die Wirkungsgeschichte der Mailänder Manufaktur, die ihren Designmotor ein Jahrzehnt lang „laut aufheulen ließ“ (Kracht), bis auch der letzte Tempo-Leser eines ihrer betont geschmacklosen Artefakte besitzen wollte, schien Kracht nicht zu interessieren.
Stattdessen: Namen über Namen, wer wann mit wem in welcher Mailänder Winternacht wo genau zusammengesessen hat. Sinnloses Luxuswissen, das so lange ernst vorgetragen wurde, bis die ratlos fragenden Gesichter im Publikum aus lauter Verzweiflung wissend zu grinsen begannen. Als sich Akademiepräsident Horzon für den kurzen Vortrag bedankte und zur Scheinvergabe rief, stand halb Mitte Schlange für ein Kracht-Autogramm. Ein voller Erfolg: Irony mag zwar over sein, Christian Kracht ist es noch lange nicht.
CORNELIUS TITTEL
Heute liest Susanne Gerber, 20 Uhr, „Kunst.Stoff.Tüten“ in der Wissenschaftsakademie, Torstraße 94