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Archiv-Artikel

Historische Betrachtungsweite

betr.: „Schneidig wie Leo Trotzki. Ein Lehrgang über den Narzissmus der kleinen Differenz“ von Robert Misik , taz vom 18. 6. 03

Robert Misik vergleicht ein Ereignis im Jahr 2003 mit einem Ereignis aus dem Jahr 1920 – die Niederlage der Roten Armee vor Warschau mit dem Einmarsch der US-amerikanischen Truppen in Bagdad. Die lange Zeit dazwischen, die Verschiedenheit der Orte und Umstände – im Blick des Historikers ergibt das Betrachtungsweite. Wie gut, dass die Leser im Dunklen schweben! Wer war eigentlich dieser Trotzki? Aha, so ein Schneidiger! Hat offenbar einen Angriffskrieg gegen das arme Polen geführt, kam aber zum Glück nicht ganz durch bis Bagdad, wie heute der Bush, der von ehemaligen Trotzkisten Beratene. Misik schreibt: „Der Chef der Roten Armee war damals Leo Trotzki, mit dem diese Episode sowjetkommunistischer Außenpolitik verbunden bleiben sollte, auch wenn er in seiner Autobiografie ‚Mein Leben‘ deutlich machte, dass er gar nicht der Kopf der Heißsporne war.“ […]

Ich bin kein Historiker. Ich selbst hab bloß den alten Deutscher gelesen. Dieser Isaac Deutscher, ein polnischer Jude, schreibt in seinem dreibändigen Werk über Trotzki in Band 1 auf den Seiten 433 bis 436, Verlag Kohlhammer, 1966:

„Am … 13. Juli 1920 riet Trotzki in zwei Botschaften, … die britische Vermittlung zwischen Russland und Polen anzunehmen und auf einen Waffenstillstand hinzuwirken … Das Politbüro verwarf Trotzkis Vorschläge … Zugleich mit der Ablehnung des Curzon’schen Vorschlags [an den traditionellen Gebietsgrenzen stehen zu bleiben, auf welchen Trotzki einging] forderte Lenin eine ‚stürmische Beschleunigung der Offensive gegen Polen‘ [den angreifenden Staat unter der Präsidentschaft des anerkannt ‚präfaschistisch‘ genannten Populisten Pilsudski] … Lenin glaubte, dass die Arbeiter und Bauern Polens die Eindringlinge als ihre Befreier begrüßen würden … Trotzki setzte auseinander, dass der Vormarsch der Roten Armee auf Warschau ohne vorheriges Friedensangebot den Kredit der Russischen Revolution beim polnischen Volk zerstören und nur Wasser auf die Mühlen Pilsudskis sein würde … Von Optimismus hingerissen … brachte Lenin das Politbüro auf seine Seite … Stalin wechselte die Seiten; und Trotzki blieb mit seiner Opposition allein … Trotz seines Vorgefühls für die historische Katastrophe unterwarf sich Trotzki dem Beschluss der Mehrheit. Er blieb im Amt, gab die Marschbefehle heraus und setzte seine Routinetätigkeiten fort – nur seine Besuche an der Front schien er eingestellt zu haben.“

Pardon, dass ich Ihnen nur ein paar Sätze hinschmeiße, aus dem Zusammenhang einer wirklichen historischen Abhandlung. Diese selber zu lesen, rate ich zwar an, sie ist aber so fern unserer eigenen zurzeit geführten Geschichte, dass ich mir der Lächerlichkeit dieses Ratschlages natürlich bewusst bin. […]

FRITZ SANDMANN, Dachau