: Zu Misstrauen verpflichtet
Wegen Körperverletzung steht eine Mitarbeiterin des Jugendamtes Diepholz vor dem Verdener Landgericht. Sie soll Hinweise auf Kindesmisshandlung nicht ernst genug genommen haben
VON FRIEDERIKE GRÄFF
Es ist einer dieser Fälle, in denen das Jugendamt seit Jahren mit Eltern und Kinder befasst ist. Und zwischen all den Terminen und Vermerken werden die Kinder dennoch geschlagen und misshandelt. Hätte die Mitarbeiterin, deren Aufgabe es ist, genau das zu verhindern, merken können – und müssen –, was vor sich geht?
Laut Anklage der Staatsanwaltschaft Verden hätte die 55-jährige Annegret W. als Mitarbeiterin des Jugendamtes Diepholz erkennen müssen, dass der damals elfjährige Tarek E. und seine neunjährige Schwester Jasmin von ihrem Vater und der Stiefmutter misshandelt wurden. Nun steht Annegret W. seit Montag wegen fahrlässiger Körperverletzung im Amt vor dem Landgericht Verden.
Was sagt der persönliche Eindruck in einem Fall, der, wenn überhaupt etwas, Misstrauen vor dem äußeren Schein lehrt? Annegret W. war nahezu drei Jahrzehnte lang Mitarbeiterin im Jugendamt. Im Mai letzten Jahres wurde sie auf eigenen Wunsch versetzt in die Abteilung Hilfeplanung für behinderte Kinder. Sie wirkt weder abgestumpft noch frustriert, wenn sie von ihrer Arbeit spricht.
Laut Anklage hat Annegret W. Hinweise der Zeugin E. nicht ernst genug genommen, die ihr gesagt hatte, dass die Kinder von den Eltern geschlagen werden. E., eine sesshafte Roma, wohnte im selben Häuserblock wie Familie E., sie war der Angeklagten als eine Art fürsorgende Instanz in dem Problemviertel bekannt. Hinweise auf Misshandlungen hatte es bereits zuvor gegeben: In der Akte der ersten Grundschule von Tarek E. ist von blauen Flecken die Rede, das gleiche schreibt seine neue Klassenlehrerin in ein Fax ans Jugendamt. Ihr Eindruck sei, dass die blauen Flecke von den Eltern überschminkt worden seien. Und immer, wenn sie dem Kind Aufträge an die Eltern mitgebe, scheine es in Angstzustände zu geraten. Was sie tun solle?
Annegret W. besucht die Familie zu Hause, trifft nur den Sohn an und kann keine Flecken an ihm finden. Die Lehrerin schickt ein weiteres Fax: Tarek habe Schorfreste im Gesicht. Annegret W. fragt die gerade mal 23-jährige Stiefmutter nach dem Make-Up in Tareks Gesicht. Die Kinder hätten mit ihrer Schminke gespielt, lautet die Antwort. Ob sie das geglaubt habe, fragt der Vorsitzende Richter. „Ja“, sagt Annegret W., sie habe keine Hinweise gehabt, dass es nicht stimmt. Der Richter macht kein Hehl daraus, dass er das blauäugig findet. Es scheint, als habe Annegret W. ihre Arbeit nur sehr sporadisch dokumentiert, und die Schule beklagt sich über keine oder schleppende Rückmeldung. Das Jugendamt, so sagt sie, sei schlecht besetzt gewesen – und anderes dringlicher.
Aber sie wird über die Monate hinweg immer wieder Kontakt zur Familie haben. Die Situation eskaliert im September 2003, als die Zeugin E. die Polizei wegen häuslicher Gewalt in der Familie ruft. Die rückt zweimal an, trifft aber keine Kinder an. Annegret W. fährt zu den Eltern, die behaupten, die Kinder seien bei einer Tante in Berlin. Daraufhin fordert sie von ihnen ein ärztliches Attest, das ihre körperliche Unversehrtheit bescheinigt, außerdem sollen sie gemeinsam zum Jugendamt kommen. Laut Annegret W. erhält sie vom Arzt telefonisch die Mitteilung, dass keine Hinweise auf Misshandlung vorlägen. Der Vater erscheint mit den Kindern im Amt, beide scheinen ihr gesund.
Doch waren es tatsächlich Tarek und Jasmin, die dem Arzt präsentiert wurden? Die Zeugin E. zweifelt das gegenüber der Angeklagten an – die einen solchen Betrug durchaus für möglich hält. „Und dann?“, fragt der Richter. Habe sie ein Kontrollnetz aufgebaut, sagt die Angeklagte und die Lehrer gebeten, sich regelmäßig mit ihr in Kontakt zu setzen. Einen Besuch beim Arzt habe Tarek abgelehnt. „Ich bin gesund“, habe er gesagt.
Im Dezember werden die Kinder in den Libanon verfrachtet. Davor verbrennt die Stiefmutter Tareks Hals mit einem Bügeleisen. Das, so sagt das Gericht, habe Annegret W. verhindern können. Die Stiefmutter ist inzwischen wegen Körperverletzung zu vier Jahren Haft und der Vater zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt worden. Die Kinder haben, als sie aus dem Libanon zurückkehrten, dem Jugendamt von den Misshandlungen erzählt, Annegret W. erstattete Strafanzeige gegen die Eltern. Ob sie das geglaubt habe, fragt der Vorsitzende Richter. „Ja“, sagt Annegret W., sie habe keine Hinweise gehabt, dass es nicht stimmt.