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Archiv-Artikel

Viele Wege nach Compostela

Der Jakobsweg besteht aus vielen Wegen, die eines gemeinsam haben: Sie führen zum Grab des heiligen Jacobus. Der Pilgerpfad entlang des Meeres lockt nicht nur mit Sündenerlass, sondern auch mit den Reizen des Baskenlandes

Von der Altstadt Hondarribias hat man einen wunderschönen Blick auf das Meer

von VOLKER ENGELS

Der Zug, der Paris abends in Richtung Spanien verlässt, ist gut belegt. Junge und Alte machen es sich im Schlafwagen bequem, verstauen ihre bunten Rucksäcke in den engen Waggons. Im Bauch schwappen Fisch und Weißwein. Doch das Völlegefühl beruhigt: In den kommenden drei Wochen wird das Leben asketischer verlaufen. Europas älteste Pilgerstrecke, der Jakobsweg, steht auf dem Programm.

Genau genommen gibt es nicht „den“ Jakobsweg, sondern eine Vielzahl von Wegen, die eines gemein haben: Sie enden in der Pilgerstadt Santiago de Compostela am Grab des heiligen Jacobus. Doch nicht das Pilgern und die Hoffnung auf Sündenerlass, sondern die Aussicht auf eine spannende Wanderung entlang des Meeres ist es, die die Entscheidung auf den Nebenweg entlang der Küste fallen lässt.

Am französisch-spanischen Grenzbahnhof Hendaye führt der Weg über den Grenzfluss Bidasoa nach Spanien. Beim Laufen auf der Straße fällt es schwer zu glauben, dass diese Asphaltpiste viel mit einer alten Pilgerroute gemein hat. Nach wenigen Kilometern ist die ansehnliche Altstadt von Hondarribia erreicht, von dem man einen wunderschönen Blick auf das Meer hat.

Abends treffen sich Einheimische und Touristen weiter unten an der San-Pedro-Straße, wo kleine Bars und Restaurants delikate Tapas aus frischen Meeresfrüchten anbieten. An der Strandpromenade flanieren Hungrige, die auf einen Platz in einem der zahlreichen Restaurants warten. Reisende, die einen Pilgerausweis haben, werden in der riesigen Jugendherberge in der Nähe des Hafens aufgenommen. Dieser Ausweis, den man sich gegen eine kleine Spende am besten schon in Deutschland bei den Jakobusgesellschaften besorgt, ist ein unentbehrlicher Reisebegleiter, um in billigen Pilger- oder preiswerten Jugendherbergen unterzukommen.

Auf dem Weg zum nächsten Etappenziel San Sebastián (baskisch: Donostia) wollen wir nach 20 Kilometern eigentlich die Stadt Pasajes nur passieren. Doch der Ortsteil Donibane verzaubert: Direkt an der größten natürlichen Bucht des Baskenlandes gelegen, glaubt der Reisende, direkt in die Piratenzeit katapultiert zu werden. Schmale Gassen, verwinkelte Torbögen und exzellente Fischrestaurants üben eine Anziehungskraft aus, die eine Weiterreise in den kommenden zwei Tagen unmöglich macht.

Über einen Pfad entlang der Bucht ist das offene Meer zu erreichen. Auf dem Weg dorthin ist in einem riesigen Bretterverschlag eine Holzbude mit zahlreichen Tischen untergebracht: Ein bärtiger Riese im Rentenalter serviert frischen Fisch vom Grill, eine junge Frau bringt Wein und Wasser. Später wird es der Alte erbost ablehnen, dass wir den Fisch bezahlen. „Wir Basken sind gastfreundlich“, sagt er lakonisch.

Auch in den nächsten Tagen werfen Einheimische uns immer wieder einen freundlichen Gruß zu, verschenken Obst oder Wasser oder weisen ohne Nachfrage den richtigen Weg. Und das ist auch gut so, denn nicht immer sind die Markierungen der örtlichen Jacobsvereine eindeutig zu entschlüsseln. An einer einsamen Kreuzung in den Bergen entpuppen sich zwei Polizisten mit dunklen Sonnenbrillen und Dirty-Harry-Grinsen, die ihren Wagen mit quietschenden Bremsen direkt vor uns zum Stehen bringen, als wahre Helfer gegen das Verlaufen: „Der Pilgerpfad geht hinter der nächsten Kirche weiter – fünf Minuten zu Fuß.“ In Spielfilmen endet so was anders.

Selbst auf der Nebenroute entlang der Küste treffen sich immer wieder Gruppen oder Einzelreisende, die sich eine Jacobsmuschel als Zeichen ihrer Pilgerschaft ans Revers geheftet haben. Meistens wird nett über die schönste Strecke, das beste Restaurant oder die preiswerteste Unterkunft parliert. Dem ein oder anderen Missionar, der mit himmlischen Botschaften unterwegs ist und das gemeinsame Gebet sucht, entziehen wir uns durch Verstecken. Ein Himmelreich für ein Gebüsch!

Auch wenn der Weg einmal die Küste verlässt: Das Meer bleibt meistens im Blick. Immer wieder stößt der Weg direkt ans Wasser, immer wieder laden malerische Orte zu mehrstündigen oder -tägigen Pausen ein. Wenn das nordspanische Wetter bedeckt ist, heißt es laufen; bei Sonnenschein wird gebadet. Städte oder Regionen, die touristisch wenig zu bieten haben, umfahren wir mit der Bahn oder dem Bus. Schließlich ist es vor allem das Vergnügen, das die Beine bis Llanes an der Costa Verde bewegt. Reisende, die allerdings Buße tun wollen, sollten sich das „Heilige Jahr“ 2004 im Kalender rot markieren: Dann fällt der 25. Juli – der Jakobstag – auf einen Sonntag. Wer in diesem Heiligen Jahr das Apostelgrab besucht, seine Sünden bereut und einige religiöse Riten vollzieht, erhält einen vollständigen Sündenerlass.