Der Mann mit dem Aktenscheitel

Schurken, die die Welt beherrschen wollen. Heute: Hans „der Blanke“ Eichel

Die Eindrücke graben sich in den kleinen Hans so tief ein wie der Scheitel ins Haupthaar

Alle Pfeifen spatzen es: Deutschlands Wirtschaft hängt durch. Der Industrie schleift die Zunge am Boden, und die Nation lebt auf dem Zahnfleisch. Immer mehr Unternehmen stürzen sich in die Schlinge, immer weniger Personen stehen fest im Geschirr ihres Arbeitsplatzes, immer neue Schuldenberge reißen ihre Mäuler auf, und der Wohlfahrtsstaat frisst seine eigene Hängematte. Der Flügelschlag einer Zukunft im Armenkleid steigt am Horizont auf.

Wird ausgerechnet der Mann mit der Aktentasche in der Hand, dem Scheitel am Kopf und dem Nachnamen weiter unten es richten, Hans Eichel? Seit gut einem Jahr verdichten sich die Zweifel an seiner Kunst zu einem schwarzen Loch der Kritik, in das die Opposition kräftig bläst. In der Tat verspritzt Eichel weniger das Odium eines großkalibrigen Helden als den Ruch des biederen Kassenwarts eines Schachvereins. Das Fragezeichen lautet also: Ist Eichel ein Retter der etwas anderen Art? Und wenn ja oder nein, warum oder nicht?

Die Psychologie lehrt: Was der Mensch als Erstes erlebt, prägt ihn am tiefsten. Für Hans Eichel war das die Kindheit. Sie begann letzten Endes am 24. 12. 1941, als der junge Hans seinen Eltern in Kassel eine ganz besondere Weihnachtsüberraschung beschert: sich selbst. Da das Geld für einen Kinderwagen fehlt, trägt seine Mutter ihn in einer ausrangierten Aktentasche ihres Mannes, die bald so abgewetzt aussieht wie die Stadt Kassel nach den Bombenangriffen – Eindrücke, die sich in den kleinen Hans so tief eingraben wie der Scheitel ins Haupthaar.

1945 ist der Ernst der Lage besiegt, aber auch der Nachkrieg hält die Ansprüche der Familie kurz, die jeden Groschen dreimal umdreht, ehe sie ihn doch spart. Nicht gespart wird ab sofort mit Anstand und Moral, um der Welt zu zeigen, dass der Deutsche wieder artig ist, und so erhält der vorbildlich brave Hans als Pennäler ebenso wie später als Oberbürgermeister Kassels, als Ministerpräsident Hessens und, bis zum Schuljahr 2001/2002, auch als Bundesfinanzminister stets sehr gute Führungsnoten in Ordnung, Fleiß, Aufmerksamkeit und Betragen.

Auch sonst hat Eichel die Nase im Geist der Zeit. Verteilt er in den Fünfzigerjahren Flugblätter für Adenauer, so tritt er 1964, als die Wetterfahne langsam kippt, in die SPD ein, und segelt später genauso folgerichtig im Wind der Ökobewegung wie der Frauenemanzipation: 1981 geht er in Kassel als erster Oberbürgermeister Deutschlands mit den Grünen ins Bett der Stadt und wiederholt die Nummer zehn Jahre danach als frisch gebackener hessischer Ministervater in Wiesbaden; item sorgt er hier wie dort dafür, dass seine Regierungsteams paritätisch aus Männlein und Weiblein zusammengesetzt sind, genau wie seine 16 Jahre währende Ehe mit Karin Lippoldt.

Zwar setzt ihm in Hessen 1999 Roland Koch den Stuhl vor die Aktentasche. Doch anstelle des Ruhestands, in dem er sich den zwei Kindern aus seiner Exfrau und seinen Hobbys widmen könnte – Eichel sammelt mit Begeisterung alte Aktentaschen und interessiert sich auch privat für Scheitelfrisuren –, wartet Gerhard Schröder auf ihn, der ihn nach dem Abgang Lafontaines als neuen Finanzminister aus dem Sack zieht.

Schon als Schüler hatte Eichel den Schulmilchobolus von seinen Klassenkameraden kassiert und darüber gewacht, dass die Nettoneuverschuldung einzelner Mitschüler nicht die monatliche Taschengeldquote übertraf und damit den häuslichen Stabilitätspakt gefährdete. Der eiserne Hans, der mit seinen wenigen Schulfreunden am liebsten über Wertzinszuwachsverlustraten sprach und unter der Bank heimlich Haushaltsrichtlinien und Förderbankenneustrukturierungsgesetze entwarf, hatte sich auch in der SPD, der er seit 1997 als finanzpolitischer Koordinator das kleine Einmaleins beibrachte, einen unverbesserlichen Ruf erworben. Schnell galt er als Adam Riese der natürlichen Zahlen und Albert Einstein der Grundrechenarten.

Der neue Finanzminister Eichel enttäuschte seinen Gebieter nicht, stieg mit Bestnoten in den Fächern Sparpaket und Steuerreform binnen Jahresfrist zum Klassenprimus auf und machte 2002 sogar Miene, an der Spitze einer großen Koalition den Direx Schröder abzulösen.

Der Streich ging bekanntlich in den Eimer. Seither wird Eichel, dem obendrein im Wahlkampf erstmals in seinem Leben ein Rechenfehler unterlief, indem er die roten Zahlen in der Staatsschatulle gesundredete, von Freund und Feind überall geschnitten und backt im Bundeskabinett ganz kleine Münzen. Aber wer ihn kennt, weiß, dass Eichel immer dann, wenn alle Stricke knacken und die Öffentlichkeit böse zu ihm ist, Halt an seiner Aktentasche findet und sich unter seinen Scheitel zurückzieht. Und was sich darunter abspielt, geht niemanden etwas an. Man erfährt es sowieso früh genug. PETER KÖHLER