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Archiv-Artikel

Deutsch-polnische Rad-Connection

Alle zwei Jahre kürt die Naturfreunde Internationale eine Grenzregion zur Landschaft des Jahres: „Das Lebuser Land – eine Brücke in Europa“ lautet das Motto der diesjährigen Naturfreunde-Aktion. Ein Abstecher auf den Oder-Neiße-Radweg

Radfahrer sind unsere Zukunft, und die Zusammenarbeit mit Polen ist Pflicht

von HENK RAIJER

Noch ist Schengen nicht verloren. Zwei Sekunden zögert der Mann vom BGS, schaut die beiden Kollegen an, die am improvisierten Landesteg von Lebus Reisepässe kontrollieren.Und blickt dann auf die junge Frau, die keinen Pass dabeihat, ihn aber so nett darum bat, sie anlässlich der Proklamation der „Landschaft des Jahres“ doch „ausnahmsweise“ ohne Papiere ans andere Ufer der Oder fahren zu lassen. Versonnen wischt sich der Beamte die ersten Schweißperlen des Tages aus den Augenbrauen. Dann besinnt er sich, sagt ein klares Nein, das gehe nicht, drüben sei Polen und noch sei Polen nicht in der EU.

„Das Lebuser Land – eine Brücke in Europa“ lautet das Motto der diesjährigen Naturfreunde-Aktion. Alle zwei Jahre küren die Präsidenten der 22 nationalen Verbände der Naturfreunde Internationale (NFI) eine grenzübergreifende und ökologisch sensible Region in Europa zur „Landschaft des Jahres“. Ziel der Aktion ist es, die nachhaltige Entwicklung der gewählten Region anzustoßen, kulturelle Barrieren zu überwinden und Zusammenarbeit zu fördern. Die „Landschaft“ will gemeinsam mit der Bevölkerung Zukunftsinitiativen erarbeiten und Programme initiieren, die auch nach der zweijährigen Initialphase weiterwirken. Bisherige „Landschaften“ waren der Bodensee (1989), der Neusiedler See (1990), Eifel und Ardennen (1991/92), die Odermündung (1993/94), das Lesachtal in Österreich und das Gebiet Furka-Grimsel-Susten in der Schweiz (1995/96), die Maas (1997/98), Böhmerwald (1999/2000) und das „alte Flandern“ (2001/02).

Auch beim Projekt „Lebuser Land – Ziemia Lubuska 2003/2004“ stehen die Erhaltung von Naturräumen, der Gewässerschutz sowie die Schaffung von Arbeitsplätzen im ökologischen Landbau und im nachhaltigen Kultur- und Naturtourismus im Mittelpunkt. „Wir wählen bewusst ländliche Grenzregionen aus, um zu zeigen, dass die Naturlandschaft wertvolles Kapital darstellt, nicht nur für den Tourismus, sondern auch für die Lebensqualität in der Region“, erklärt Manfred Pils, Generalsekretär der NFI, des Naturfreunde-Dachverbands, der europaweit über 500.000 Mitglieder zählt.

Das Lebuser Land beidseits der Grenze – Name und Ausdehnung des Gebietes orientieren sich an den Grenzen des Bistums Lebus aus dem 12. Jahrhundert – mit seinen Spuren der Eiszeit wie Feldsteinen und Urstromtälern, mit seinen Urwäldern, Naturschutzgebieten und Seen sowie alten Stadtkernen, Johanniterburgen und Zisterzienserklöstern sei „eine einzigartige Natur- und Kulturlandschaft, die es wert ist, besucht zu werden“, so Pils. Schon sei die Region dabei, eine Infrastruktur für einen sanften Naturtourismus aufzubauen. „Die Naturfreunde und die Partner vom polnischen Verband PTTK sind heute zur Proklamation der ‚Landschaft‘ in Lebus, um das zu unterstützen.“

Orte wie Lebus, das zehn Kilometer nördlich von Frankfurt (Oder) liegt, haben auch kaum eine andere Wahl. Denn sollte die Wirtschaft nach dem EU-Beitritt Polens in einem Jahr nicht anspringen, hat die Stadt ein Problem. Lebus möchte sich aus dem Teufelskreis von wirtschaftlicher Krise, leeren Kassen, Arbeitslosigkeit und Abwanderung befreien – indem es seine im Krieg zerstörte historische Altstadt saniert, dadurch junge Arbeitskräfte bindet, Gewerbe ansiedelt und Touristen anzieht. Die Wiederbelebung des Stadtbilds aus der Blütezeit Lebus’ (12. bis 16. Jahrhundert) soll die Kassen klingeln lassen. Angestrebt werde dabei ein pragmatischer Kompromiss zwischen „so viel Touristenattraktion wie möglich und alles unter dem Schutt lassen“, sagt Marianne Schmidt, die Leiterin des Sozialamts der 3.000-Einwohner-Stadt. „Wir wollen diese schöne Region schonen, aber schließlich vom Geld der Besucher leben.“

Das Oderbruch ist eine teure Gegend. Öfters hat es Überlegungen gegeben, aus dem größten Flusspolder Europas, der einst Binnendelta der Oder war, wieder Sumpfgebiet zu machen, die 20.000 Bewohner umzusiedeln. Die 60 Kilometer lange und bis zu 16 Kilometer breite Flussniederung, deren Senke in der letzten Eiszeit entstanden ist und zwischen 1747 und 1753 durch Trockenlegung urbar gemacht wurde, umfasst 60.000 Hektar Land, 1.400 Kilometer Entwässerungsgraben, 80 Kilometer Deich, 38 Schöpfwerke und zahllose Wehre. Seit der Wende liegen große Teile der Agrarfläche brach, die meisten LPGs und verarbeitenden Gewerbe, etwa Zuckerfabriken, mussten aufgeben.

Einzige Option zur Wiederbelebung dürfte der Fremdenverkehr sein. Nur erschließen sich die Reize des Oderbruchs nicht jedem sofort: „Et jibt hier nu mal keene schicken Berge“, sagt Hermann Kaiser aus Reitwein, der als ehrenamtlicher Fremdenführer weiß, dass man „solche Orte nur mit hohem persönlichem Einsatz aus der Krise holen kann“. Es macht dem Endvierziger sichtlich Spaß, Besuchern sein Dorf zu zeigen. „Eener muss et ja machen, sonst passiert nüscht“, sagt Kaiser, während er, auf dem Deich stehend, erzählt, wie das Oderwasser bei der großen Flut (1997) hier nur knapp unterhalb der Krone blieb.

Mit Engagement und Humor führt Kaiser, der sich im Zuge der Deicherneuerung für die Rettung der hundert Jahre alten Eichen, Eschen und Ahorne zwischen Reitwein und Bleyen eingesetzt hat, Gästen eine weitere Attraktion seiner Heimat vor: den Reitweiner Sporn, Höhe: 81 Meter. Auf der zweistündigen Tour entlang historischen Handelswegen und slawischen Burgwällen aus dem 7. Jahrhundert stößt man unweigerlich auf die Narben des Zweiten Weltkrieges: auf Schützengräben sowie Spuren von Einschlägen. Und den Shukow-Bunker.

Am 2. Februar 1945 hatten sowjetische Truppen Reitwein besetzt. Am 16. April gab Marschall Shukow hier das Signal zum Sturm auf Berlin. Vom Sporn aus befehligte er die Schlacht um die Seelower Höhen, die 50.000 Soldaten das Leben kosten sollte. Der 25 Meter tiefe Bunker, dessen Eingang aus dunklen Balken gefertigt ist, liegt an einem bewaldeten Hang. „Erzählen Sie bloß nicht zu vielen Leuten vom Bunker. Nachher kommen tausende von Touristen hierher und buddeln nach dem Bernsteinzimmer“, witzelt Kaiser.

Obstbäume säumen die Chausseen im Oderbruch, Kartoffel-, Raps- und Sonnenblumenfelder prägen das Land um die einzeln stehenden, „loosen“ Gehöfte, die im Zuge der Flurneuordnung des 18. Jahrhunderts Kolonistenfamilien per Losentscheid zugewiesen wurden. Das Getreide steht schlecht, die Bauern klagen über die Dürre. Auch Groß Neuendorf setzt auf die touristische Alternative. Vor dem Landfrauenhaus, das Radwanderern preiswerte Zimmer anbietet, stehen Mieträder bereit. Karin Rindfleisch, Bürgermeisterin der 435-Einwohner-Gemeinde am Fluss, sieht die einzige Chance in sanftem Tourismus und im Oder-Neiße-Radweg. „Radfahrer sind arbeitsintensiv, weil sie meist nur eine Nacht bleiben“, weiß sie. „Aber sie sind unsere Zukunft.“

Vermarkten könne man die Region indes nur gemeinsam mit Polen. Der Nationalpark Warthemündung etwa sei nicht nur ein Anglerparadies, sondern wegen seiner Biber, Otter, Kranichee und Seeadler auch für Tierbeobachter einzigartig. „Auch gleich gegenüber gibt es schon Erholungsgebiete. Das rührt daher, dass in Polen alles billiger ist, weniger Bürokatie herrscht.“ Karin Rindfleisch hält den Ansatz des Projekts „Landschaft des Jahres“ für den einzig möglichen. „Es muss in die Köpfe rein: Die Zusammenarbeit mit den Polen ist Pflicht“, sagt die Frau, die sich vom Schiffsanleger und dem EU-Beitritt Polens Auftrieb erhofft. „Da können wir noch was lernen, die Polen sind cleverer als wir.“