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Archiv-Artikel

Baseball-Paradies auf Coney Island

Mit den Brooklyn Cyclones ist Amerikas Lieblingssport Baseball in den New Yorker Stadtteil zurückgekehrt, der den Verkauf der Dodgers nach Los Angeles in den 50er-Jahren nie verwunden hat. Die Fans sind sich einig: Nirgends fliegen die Bälle schöner

aus New York SEBASTIAN MOLL

Larry und Marc sind verunsichert. Sie können sich nicht so recht für eine der beiden Mannschaften entscheiden, die auf den diamantfömigen Rasen des Keyspan-Stadions aufgelaufen sind. Die beiden Mittvierziger haben sich gerade einmal die Krawatten aus den gestärkten Hemdkragen gezogen, ansonsten tragen sie noch die Anzüge, mit denen sie den ganzen Tag in ihren stickigen Manhattaner Büros gesessen haben. So stehen sie auf der Tribüne, ein kühles Brooklyn Lager in der Hand und genießen den Ausblick auf die alte „Cyclone“-Achterbahn links, auf den Strand von Coney Island rechts hinter dem Stadion, sowie die kühlende Brise, die vom Meer her über das Spielfeld weht.

„Ich bin in einem echten Zwiespalt“, meint Marc, „ich bin auf Staten Island aufgewachsen, aber ich bin auch ein Mets-Fan.“ Die Staten Island Yankees sind heute die Gastmannschaft, eine Mannschaft der Minor League Division A, der niedrigsten Klasse im bezahlten Baseball. Die Yankees sind, wie der Name schon verrät, ein Farm-Team der Major-League-Mannschaft New York Yankees. Diese sind allerdings in New York die Erzrivalen von Marcs Mets. Die Yankees aus Staten Island bilden für die Yankees aus der Bronx Talente aus. Dasselbe tun die nach der 76 Jahre alten Achterbahn von Coney Island benannten Brooklyn Cyclones für die Mets, die im Shea Stadium in Queens spielen. Das wiederum bringt Larry in einen Konflikt: „Ich komme einerseits aus Brooklyn, bin aber andererseits ein eingefleischter Yankees-Fan.“

Allerdings ist die Loyalität zu einer der beiden Mannschaften Larry und Marc an diesem Abend nicht so wichtig. Wichtiger ist es, einen schönen Baseballabend unter Leuten aus dem Stadtteil zu verleben, und schöner als auf Coney Island, da sind sie sich einig, ist es nirgends. Schon gar nicht bei den Yankees in der Bronx oder bei den Mets in Queens: „Major League kann doch kein Mensch mehr bezahlen. Und die besten Plätze sind ohnehin an die großen Firmen vergeben. Da komme ich lieber hierher. Das kostet neun Dollar, und man ist zehn Meter vom Feld entfernt“, sagt Marc.

Larry findet die Abende bei den Brooklyn Cyclones gar „unheimlich aufregend“. Allerdings mehr, weil die Cyclones Coney Island wieder beleben – den berühmten New Yorker Strand, der seit der Wende zum 20. Jahrhundert alle Schichten und Ethnien der Stadt in ihrem Bedürfnis nach Kühlung, Amüsement und ein wenig Sommerflirt eint. Der Strandabschnitt, an dem bis in die 50er-Jahre der Steeplechase – einer der drei Vergnügungsparks von Coney Island – stand, werde durch das neue Cyclones-Stadion endlich wieder nutzbar, schwärmt Larry, der schon als Kind die Sommer hier verbrachte. Bis vor drei Jahren sei alles verfallen und tot gewesen. Jetzt würde sogar der Parachute-Jump wieder in Betrieb genommen, freut sich Larry, das riesige Stahlgestell neben dem Stadion, wo man sich damals in Schaukeln unter Fallschirmen aus 30 Metern Höhe zu Boden stürzen konnte.

Die Wiederbelebung von Coney Island war es auch, die Fred Wilpon im Jahre 2000 antrieb, die Cyclones hierher zu bringen und ihnen ein Stadion am Strand zu bauen. Wilpon ist der Besitzer der New York Mets und ist nur ein paar hundert Meter vom Strand entfernt aufgewachsen. Wenn eine Profimannschaft im Baseball ein Farm-Team eröffnet, braucht es die Zustimmung des örtlichen Rivalen, und als Yankees-Besitzer George Steinbrenner 1999 die Staten Island Yankees kaufte, hatte Wilpon sofort den Gedanken an eine Mannschaft in Brooklyn, das nur durch die New York Bay von Staten Island getrennt wird. „Ferry Series“ werden seither die Spiele zwischen Brooklyn und Staten Island genannt, in Anlehnung an die Meisterschaftsserie zwischen Yankees und Mets 2000, die wegen der U-Bahn Verbindung zwischen Queens und der Bronx „Subway-Series“ genannt wurde.

Was Fred Wilpon gehofft, aber niemals erwartet hatte, war der Publikumserfolg, zu dem das drittklassige Baseball auf Coney Island wurde. Vom ersten Spiel zu Beginn der Saison 2001 an war der Keyspan Park ausverkauft, und das hat sich bis heute nicht geändert. Der Grund ist die familiäre Atmosphäre, die Marc so genießt, die Kulisse, die Larry lockt, aber vor allem eines: die Nostalgie. 1957 verkaufte Walter O’Malley, der Besitzer der Brooklyn Dodgers, die Mannschaft, die 1955 die World Series gegen die Yankees gewonnen hatte, nach Los Angeles. Ein Verlust, der dem Stadtteil eine tiefe Wunde schlug.

Der Literaturnobelpreisträger Bernhard Malamud, der sein Leben lang in Brooklyn wohnte, schrieb 1983, es habe zwei katastrophale Ereignisse in der Stadtteilgeschichte gegeben: „die Schließung der Marinewerft und den Verkauf der Dodgers“. Die Dodgers waren stets das Symbol des Brooklyner Selbstwertgefühls gewesen, insbesondere gegenüber dem alles überschattenden Manhattan am anderen Ufer des East River. Zwischen 1950 und 1954 hatten die Dodgers jeweils das Endspiel um die Meisterschaft gegen die New York Yankees verloren, die zwar ihr Stadion in der Bronx haben, aber immer als das New Yorker Team galten. Als 1955 die Dodgers im sechsten Anlauf dann gegen die Yankees die Meisterschaft holten, war das in der kollektiven Erinnerung der Brooklyner der glorreichste Moment in der Geschichte jenes Stadtteils, der sich schon in den 1890er-Jahren mit Zähnen und Klauen gegen die Eingemeindung in das Greater New York gewehrt hatte.

Deshalb wird Wilpon als der Mann gefeiert, der Baseball zurück nach Brooklyn gebracht hat. Auch wenn der Sport unterklassig ist. Die Cyclones können den Stolz auf die Dodgers natürlich nicht vollwertig ersetzen. Dennoch ist die wöchentliche Pilgerreise nach Coney Island zu einem Brooklyner Ritual geworden: „Man hat das Gefühl, heim zu kommen, obwohl man noch nie hier war“, erklärt Michael Shapiro, der gerade ein Buch über die Dodgers geschrieben hat, warum die 7.500 Plätze im Keyspan Park immer ausverkauft sind. Seit dem Wegzug der Dodgers sind die Cyclones-Spiele die beste Art, sich als Einwohner Brooklyns zu fühlen. Das bekam auch der New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg zu spüren, der per Hubschrauber einflog, um zum ersten Heimspiel der Saison den ersten Ball zu werfen: Er erntete ein gellendes Pfeifkonzert. Anders als sein Vorgänger Rudy Giuliani kommt Bloomberg nicht aus Brooklyn und wird als smarter Manhattaner Geschäftsmann hier wohl auch nie akzeptiert werden.

Gegen Mitternacht stehen die Cyclones mit 7:4 als Sieger fest. Die Neonlichter der Achterbahn und des Riesenrads funkeln in den Nachthimmel über der New York Bay. Der Bahnsteig an der Stillwell Avenue in Richtung Manhattan ist leer.