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Archiv-Artikel

Berlusconi setzt auf Brüssel

In der EU erwartet niemand, dass Berlusconi beim Abfassen der Verfassung Schaden anrichten wird

aus Rom MICHAEL BRAUN

Das ist Timing, wie es perfekter nicht sein könnte: Morgen, am 1. Juli, übernimmt Silvio Berlusconi die EU-Ratspräsidentschaft – und heute wird der gegen ihn in Mailand laufende Korruptionsprozess vorläufig eingestellt, dank des neuen, für den Ministerpräsidenten maßgeschneiderten Immunitätsgesetzes. Berlusconi selbst hat in den letzten Wochen immer wieder einen direkten Zusammenhang zwischen den beiden Ereignissen hergestellt. Einfach ein Unding sei es, wenn er in Europa den Ratspräsidenten und zugleich zu Hause den Angeklagten gebe, wenn er gar während der halbjährigen Präsidentschaft verurteilt würde. Schluss müsse deshalb sein mit dem Prozess, um Schaden von Italien abzuwenden.

Schaden aber hat Berlusconi nur von sich selbst abgewendet, auch um den Preis, dass er mit ziemlich lädiertem Image sein europäisches Mandat antritt. Selten fand ein Wechsel in der EU-Ratspräsidentschaft quer durch den Kontinent ein so großes Medienecho, und selten waren da so unschöne Dinge zu lesen wie jetzt: dass da nun ein Politiker die EU führt, der offene Rechnungen mit der Justiz hat – und der sich Recht und Gesetz so hinbiegt, dass er diese Rechnungen nie wird begleichen müssen. Selbst der Ruf, Italien müsse unter europäische Kuratel gestellt werden, es müsse zum Objekt von Kontrollen, ja auch von Sanktionen werden, wird wieder laut. Was bei Jörg Haider recht wahr, ist das nicht bei Berlusconi billig?

Solche Sorgen muss sich Italiens Ministerpräsident nicht machen, bisher nämlich hat er die EU als das Gegenteil kennen gelernt: als Blitzableiter, der es ihm ermöglicht, zu Hause ungestört seine Politik zu betreiben. Als propagandistischer Schutzschild, hinter dem er „wegen Europa“ die Staatsanwälte kaltstellt. Aber nicht immer war „Europa“ für ihn hilfreich.

Berlusconi selbst redet oft von 1994. Es war das Annus horribilis, das schrecklichen Jahr, als er nach nur wenigen Monaten an der Regierung scheiterte. Koalitionskrach, der Krieg mit der Justiz, Massenproteste der Gewerkschaften – diese Turbulenzen hießen auf den Finanzmärkten „Länderrisiko“ und wurden gnadenlos abgestraft. Binnen kurzem waren 1994 die italienischen Zinsen auf Rekordniveau, war die Lira im Keller, die Staatsverschuldung außer Kontrolle – und Berlusconi am Ende.

Ähnliche Folgen drohen ihm heute nicht, egal was er so anstellt an der Macht: Es gibt keine Lira mehr, keinen italienischen Geldmarkt mit eigenem Zinsniveau – also auch kein Länderrisiko Italien. All dies erlaubt Berlusconi, sich erneut mit der Justiz anzulegen und die Gewerkschaften zu Generalstreiks zu provozieren. Die fortgeschrittene europäische Integration verhindert schlicht, dass Italien und sein Regierungschef von „den Märkten“ die Quittung bekommt.

Ausgerechnet der heutige Euro-Nutznießer Berlusconi bekämpfte 1996 als Oppositionsführer erbittert jenes Sanierungsprogramm, mit dem der damalige Ministerpräsident Romano Prodi Italien fit machen wollte für die Währungsunion; tot gespart werde das Land, wetterte Berlusconi damals. Jetzt genießt er die Folgen von Prodis Politik – und mag sich doch weiterhin nicht recht zu Europa bekennen.

In gut zweijähriger Amtszeit hat er es bisher beharrlich vermieden, auch nur in Ansätzen seine Vision vom Fortgang der Integration darzulegen. Statt Worten aber gab es eloquente, nicht gerade proeuropäische Taten (siehe Kasten). Da überraschte es nicht, wie lustlos Berlusconi am letzten Donnerstag im Parlament die Agenda für das italienische Halbjahr vorstellte. Abschluss der Arbeiten an der europäischen Verfassung, der Friedensprozess in Nahost, die Verbesserung der Beziehungen zwischen USA und Europa, Maßnahmen zur Belebung der Wirtschaft – der Ministerpräsident verlas eine lange Liste, ohne kaum je zu sagen, was er eigentlich vorhat.

Beruhigend ist diese Einsilbigkeit nicht. Beispiel Naher Osten. Dorthin fuhr Berlusconi schon drei Wochen vor Übernahme der Ratspräsidentschaft, als „Vermittler“. Und sein Auftraggeber war nach eigener Auskunft – nein, nicht etwa die EU, sondern US-Präsident Bush. Entsprechend sah die Vermittelei aus. Israels Ministerpräsident Ariel Scharon bekam zu hören, in Italien habe er „seinen engsten Freund“; einem Treffen mit Palästinenserchef Jassir Arafat verweigerte sich Italiens Ministerpräsident. Und als Frankreichs Außenminister kommentierte, Berlusconi entferne sich so von der EU-Linie, blaffte der zurück, de Villepin habe „eine gute Gelegenheit verpasst, den Mund zu halten“.

So werden wohl generell die Akzente aussehen, die Italien auf dem Feld der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik setzen wird: rundheraus USA-treu. Nur über die Stärkung der atlantischen Bande – da wurde Berlusconi in seiner Parlamentsrede dann doch einmal deutlich – könne Europa zum weltpolitischen Protagonisten werden.

Dagegen erwartet in den europäischen Staatskanzleien kaum jemand, dass Berlusconi beim europäischen Verfassungswerk groß Schaden anrichten wird. Einstimmigkeit oder Mehrheitsverfahren bei Abstimmungen in der Union, Gewichtung der Stimmen, ein fester EU-Ratspräsident, die Machtverteilung zwischen Rat und Kommission – keiner weiß, was Italien favorisiert. Im Konvent ist der Regierungsvertreter Italiens, Vizeministerpräsident Gianfranco Fini von den Postfaschisten, kaum aufgefallen.

Bekannt ist so nur ein Ziel Berlusconis: die Unterzeichnung der ersten EU-Verfassung in Rom, am liebsten im nächsten Frühjahr, kurz vor den Europawahlen. Um als Gastgeber der Zelebrierung dieser „Zweiten Römischen Verträge“ zu glänzen und so innenpolitisch zu punkten, wird er auf der im Oktober beginnenden Regierungskonferenz wohl so gut wie jeden Kompromiss mittragen.

Eher innen- als europapolitische Erwägungen stehen auch hinter den Prioritäten, die Italiens Regierung in der Wirtschaftspolitik nennt. Da ist einmal der noch recht nebulöse Plan des Schatzministers Giulio Tremonti, der ein großes Investitionsprogramm für das europäische Verkehrswegenetz anschieben will. Zugleich sprach sich Europaminister Buttiglione für eine Neufassung – sprich: Abschwächung – des Euro-Stabilitätspaktes aus. Andererseits aber wünscht sich Italiens Regierung mehr Druck aus Brüssel: Über ein „Maastricht der Renten“ würde Berlusconi im nächsten Halbjahr gern verhandeln – und so die Verantwortung für die unpopuläre Rentenreform loswerden. Und genauso schön wäre es, wenn das Gleiche bei der Flexibilisierung des Arbeitsmarkts gelänge – denn das würde auf jeden Fall den Ärger mit den Gewerkschaften verringern. Und damit wäre Berlusconi wieder genau da, wo er schon heute in seinem Verhältnis zur EU ist: bei einem Europa als Schutzschild und Blitzableiter.