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Archiv-Artikel

Künstler, Wissenschaftler oder Techniker?

Worte und Laute von ihrer Bindung an konkrete Phänomene befreit und ihnen futuristengleich zu einem zünftigen Eigenleben verholfen: Große Werkschau Stephan von Huenes in der Galerie der Gegenwart mischt Optik und Akustik neu und erlaubt sich, Stille als Geräusch zu werten

Wild mit den Armen wedelnd und merkwürdige Lautbrocken stammelnd begrüßt ein Holzmännchen die Besucher im Lichthof der Galerie der Gegenwart. Die mechanische Figur mit den löffelähnlichen Armen nennt sich Erweiteter Schwitters. Sie wurde 1987 von Stephan von Huene gebaut und gehört zu der ersten große Retrospektive des Künstlers nach seinem Tode im Jahr 2000. Nach Stationen in München und Duisburg ist die ca. 100 Werke umfassende Schau damit in die Stadt gekommen, die für den Deutsch-Amerikaner während seiner letzten 20 Jahre Lebensmittelpunkt war.

Begonnen hatte der 1932 in Los Angeles Geborene sein Werk im Umfeld der kalifornischen Pop- und Assemblage-Kunst mit schwer entschlüsselbaren Zeichnungen voller kunsthistorischer, sexueller und musikalischer Anspielungen, mit Materialbildern und skurrilen Objekten in der Art seines Freundes Ed Kienholz. Abgesehen von späteren didaktischen, mind-map-ähnlichen Skizzen zu seinen Werken baute Stephan von Huene ab 1964 ausschließlich elektromechanische Musikskulpturen. In Hamburg dürfte der Künstler so unbekannt nicht sein: Seit 1979 war er mit der Hamburger Kunstkritikerin Petra Kipphoff verheiratet, war Gastdozent im kunstgeschichtlichen Seminar, und vor allem praktiziert seine Arbeit Text Tones bereits seit Bestehen der Galerie der Gegenwart eine akustische Interaktion mit den Besuchern. Deren Feedback war dem Künstler stets wichtig. Denn seine Kunst sollte bei aller Genauigkeit der Produktion nicht im Objekt verbleiben, sondern sich in der Erfahrung der Menschen realisieren.

Der Sohn deutscher Auswanderer aus alter Familie war stets ein Grenzgänger. In den USA war er ein Fremder, der zu Hause die feindliche deutsche Sprache nutzte. In Deutschland war er ein Amerikaner, der immer wieder nach Kalifornien zurückkehrte, jenes Land, in dem etliche Bruchstücke der Weltkultur mit dem Glamour des Showbusiness verbunden wurden. Aber auch im Kunstbetrieb sind Klangskulpturen und Theorieaggregate schwer einzuordnen: „Bin ich ein Künstler, ein Wissenschaftler, ein Techniker?“ fragte sich von Huene nicht nur rhetorisch. Sein Grenzgängertum erlaubte es ihm, Kultur von außen zu beobachten, Sprache als Geräusch zu bearbeiten und, wie der große Lehrer John Cage, Geräusche und Stille als Musik zu werten.

In der Synästhesie der Augen mit den anderen Sinnen können sich die Betrachter zum Sichtbaren Töne denken – oder hören, was nicht zu sehen ist. Letzteres allerdings nur manchmal: Um die Mechaniken zu schonen und eine die ganze Galerie der Gegenwart füllende Kakophonie zu vermeiden, wird jede Arbeit nur einmal pro Stunde für wenige Minuten in Betrieb genommen. Es empfiehlt sich also, den mindestens 60 Minuten beanspruchenden Ausstellungsrundgang präzise zur vollen Stunde zu beginnen. Nur dann ist der auf dem Rücken liegende Hund beim Trommeln und Pfeifen zu erleben, nur dann spielt die Ein-Mann-Waschbrett-Band ihren dekonstruierten Jazz.

Nach diesen Musikmaschinen und Klanginszenierungen der Sechziger und Siebziger wandte sich Stephan von Huene immer mehr der Sprache zu und verhalf den Worten – dem italienischen Futurismus verpflichtet – zu einem Eigenleben: In den drei Holztürmen des Lexichaos wird der biblische Text zum Turmbau zu Babel zu einem universellen Gebrabbel, bei den Tischtänzern steppen die Hosenbeine auf Podesten zur Melodie von Politikerreden und in der Arbeit Blaue Bücher schlägt der Künstler zurück und lässt auf den Bildmembranen besonders verschrobene Textzitate des Kunstjournalismus zertrommeln. HAJO SCHIFF

Di–So 10–18, Do bis 21 Uhr; Kunsthalle, Galerie der Gegenwart; bis 24.8.