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Archiv-Artikel

Gentleman des Fußballs

Heute wird der Weltfußballverband Fifa hundert Jahre alt. Ein Funktionär, der die Organisationin einer besonders schwierigen Phase maßgeblich prägte, war der Deutsche Ivo Schricker

Ihm eilte der Ruf voraus, Gegenspieler nie „körperlich zu insultieren“

VON BERND-M. BEYER

Wenn der Fußball-Weltverband Fifa an diesem Wochenende sein 100-jähriges Jubiläum begeht, dann feiert er sich als globales Erfolgsmodell. Mindestens zweimal in ihrer langen Geschichte allerdings musste die Fifa um ihre Existenz bangen: 1931 infolge einer Finanzkrise, und ein Jahrzehnt später während des Zweiten Weltkriegs. Beide Male bewährte sich ein Mann als Krisenmanager, der im Fußballweltverband fast zwanzig Jahre lang als Generalsekretär die Fäden zog: Ivo Schricker. Er ist bislang der einzige Deutsche, der sich innerhalb der Fifa nennenswerte und positive Verdienste erwarb.

Als Schricker 1962 starb, rühmte ihn die Fifa in einem Nachruf als „Gentleman des Fußballs“. Dieses Attribut hatte ihn sein Leben lang begleitet. Bereits als junger Spieler galt er als ein Vertreter äußerster Fairness; ihm eilte der Ruf voraus, seine Gegenspieler niemals „körperlich zu insultieren“. Noch heute schwärmen Fußballhistoriker von Schrickers „elegant-körperloser Spielweise“.

Der Sohn eines Geheimrats, 1877 im damals zum Deutschen Reich gehörenden Straßburg geboren, lernte als 17-Jähriger das Fußballspiel kennen. Beigebracht hatte es ihm Walther Bensemann, ein legendärer Fußballpionier, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch Süddeutschland zog, um die Jugend für den neuartigen „english sport“ zu begeistern. Mit dem jungen Schricker verband ihn bald eine enge Freundschaft. Bensemann erkannte das Talent des Straßburger Abiturienten und holte ihn in sein Auswahlteam, die „Karlsruher Kickers“, die sich selbst bescheinigten, „Meistermannschaft des Kontinents“ zu sein.

Mit den „Kickers“ und deren Nachfolgeteams suchten Schricker und Bensemann eine im damaligen Europa ungewöhnliche Idee zu verwirklichen: die Überwindung der Nationalgrenzen durch sportliche Begegnungen. Waren sportliche Treffen gegen Schweizer Teams noch recht einfach zu bewerkstelligen, so dauerte es bis 1898, dass Bensemann, Schricker und neun weitere Spieler erstmals beim französischen „Erzfeind“ in Paris auflaufen konnten. Und ein Jahr später schickte die englische Football Association, erstmals in ihrer ehrwürdigen Geschichte, eine Auswahl auf den Kontinent.

Motor dieser Tournee, die seinerzeit die deutsche Fußballszene spaltete, war erneut der streitlustige Kosmopolit Bensemann, der gern auf eigene Faust handelte und sich dabei nicht selten übernahm.

Schricker gelang es, das heikle Unternehmen auf diplomatischem Parkett und mit einem hohen Darlehen abzusichern. Zugleich fungierte er als „Captain“ der deutschen Elf. Die verlor zwar haushoch gegen die Engländer, konnte aber die drei Spiele zu eindrucksvollen Demonstrationen für die Magie des neuen Spiels machen.

Nach Abschluss seines Jura-Studiums schloss sich Ivo Schricker der damals spielstärksten Mannschaft an, der Elf des Karlsruher Fußballvereins, die seinerzeit ein Dauer-Abonnement auf die Süddeutsche Meisterschaft besaß. Bis 1906 spielte er dort und galt auf der zentralen Position des Mittelläufers als erste Wahl in Deutschland: Kopf und Seele, sportlicher wie geistiger Mittelpunkt des Karlsruher Spiels sei er gewesen, heißt es in Chroniken. Dass er nicht Nationalspieler wurde, lag nur daran, dass er 1908, im Jahr des ersten „offiziellen“ DFB-Länderspiels, seine Karriere beendet hatte.

Nach einem achtjährigen Aufenthalt in Kairo kehrte Schricker nach Deutschland zurück und begann nach dem Ersten Weltkrieg eine Karriere als Fußballfunktionär. 1923 wurde er Vorsitzender des süddeutschen Verbandes und sorgte dafür, dass die Sportzeitung Kicker, die Walther Bensemann gegründet hatte, zum Zentralorgan des Verbandes wurde. Dieser Kunstgriff, der dem darbenden Kicker neue Leser bescherte, half nicht nur einem alten Freund (wieder einmal) aus finanziellen Nöten, sondern erhob auch die umstrittene politische Ausrichtung des Kicker quasi zur verbandsoffiziellen Linie: Sport als Instrument der Völkerverständigung im zerrissenen Nachkriegseuropa.

Auch als Schricker 1927 ins DFB-Präsidium einzog, sah er seine Ambitionen auf dem internationalen Parkett. Noch im gleichen Jahr wurde er zum Vizepräsidenten der Fifa gewählt. Und als der Weltverband 1931 in eine Krise taumelte, weil sein ehrenamtlicher Schatzmeister, der belgische Bankier Hirschman, mit fragwürdigen Spekulationsgeschäften sich selbst und die Fifa ruiniert hatte, da bestimmte man den als überaus korrekt bekannten Schricker zum Sanierer. Für einige Monate hieß die Postadresse des Weltverbandes Belfortstraße 3 in Karlsruhe, bevor die Fifa-Zentrale feste Büroräume in Zürich bezog und sich mit Schricker erstmals einen bezahlten Generalsekretär leistete.

Der sprachkundige Elsässer verstand sich in erster Linie als Diplomat, der der langen Regentschaft des Fifa-Präsidenten Jules Rimet eine kosmopolitische Note verlieh. Er bemühte sich, die mürrischen lateinamerikanischen Verbände, die sich in der Fifa chronisch unterrepräsentiert fühlten, auszusöhnen, indem er mit ihnen auf Spanisch korrespondierte. Er versuchte, die junge Sowjetunion in die Fifa zu locken. Und er wehrte sich, leise, aber beharrlich, gegen die Versuche der Nazi-Sportfunktionäre, die Fifa stärker unter ihre Kontrolle zu bringen. Etwaige Zweifel über die braunen Absichten dürfte auch der Fall seines jüdischen Freundes Bensemann beseitigt haben: Den vertrieben die Nazis 1933 aus dem Kicker; Schricker nahm den Exilanten in seiner Züricher Wohnung auf.

Den Zweiten Weltkrieg verdammte Schricker in einem Fifa- Rundschreiben als Bruch mit den sportlichen Idealen „Pazifismus, Solidarität, Freundschaft zwischen den Völkern“ – Formulierungen, die den Protest des faschistischen Fifa-Vizepräsidenten Mauro aus Italien provozierten. Zusammen mit dem Deutschen Peco Bauwens (dem späteren westdeutschen DFB-Präsidenten) wurde Mauro in den Kriegsjahren zu Schrickers Gegenspieler. Der Generalsekretär in der neutralen Enklave Schweiz war weitgehend auf sich allein gestellt: Fifa-Kongresse konnten nicht mehr stattfinden, die Zahlungen der meisten Mitgliedsverbände wurden eingestellt. Schricker, der beharrlich auf der politischen Unabhängigkeit des Sports insistierte, spielte erfolgreich auf Zeit.

Als er Ende 1950 zurücktrat, hatte sich der Verband auf allen Ebenen wieder konsolidiert. Die Länder des Ostblocks waren in die Fifa integriert, die Südamerikaner richteten die erste Nachkriegs-Weltmeisterschaft aus, und der ökonomische Gewinn aus diesem Turnier – einige zehntausend Schweizer Franken – veranlasste den scheidenden Generalsekretär zu dem Jubelruf: „Wir sind reich!“.