: Wehrpflicht nur für Langsame
Das Bundesverfassungsgericht lässt die Wehrpflicht vorerst weiterlaufen. In der Praxis wird aber nur noch eingezogen, wer nicht rechtzeitig protestiert. Die charmante – vorläufige – Wahlfreiheit verdankt sich einem Urteil des Verwaltungsgerichts Köln
AUS FREIBURG CHRISTIAN RATH
Wer gegen seine Einberufung rechtzeitig aufmuckt, wird derzeit in der Regel nicht eingezogen. Der juristische Streit um das Fortbestehen der Wehrpflicht betrifft also vor allem Spätmerker, die sich erst um die Sache kümmern, wenn sie den Einberufungsbescheid in Händen halten. Sie müssen dann allerdings auch weiterhin ihren Dienst am Vaterland versehen, wie am Mittwoch das Bundesverfassungsgericht entschied. Es lehnte in einem Eilbeschluss den Antrag eines jungen Mannes aus Chemnitz ab, der sich über die fehlende Wehrgerechtigkeit beschwert hatte.
Der Mann hatte gegen seine Einberufung zum 1. April geklagt, weil statistisch nur noch jeder vierte Wehrpflichtige zum Bund müsse. Seine Einziehung sei daher willkürlich und verfassungswidrig. In diesem Sinne hatte vor vier Wochen auch das Verwaltungsgericht Köln in einem anderen Fall entschieden. Die übrigen Gerichte waren dem jedoch nicht gefolgt. Auch das Verwaltungsgericht Chemnitz ließ den Kläger abblitzen. Niemand könne sich darauf berufen, dass andere verfügbare Wehrpflichtige nicht eingezogen werden. Der Chemnitzer Kläger wandte sich daher an das Bundesverfassungsgericht und beantragte eine einstweilige Anordnung. Ohne Erfolg. Der Ausgang des Verfahrens sei zwar offen, aufgrund einer Folgenabwägung müsse der junge Mann aber bis zum endgültigen Urteil seinen Wehrdienst leisten. Denn die Verteidigungs- und Bündnisfähigkeit Deutschlands sei in hohem Maße gefährdet, wenn sich jeder Wehrpflichtige unter Verweis auf die vermeintlich fehlende Wehrgerechtigkeit der Dienstpflicht entziehen könne. Demgegenüber fielen die Belastungen für die Wehrpflichtigen nicht so sehr ins Gewicht, denn die Wehrpflicht sei als „Bürgerdienst“ im Grundgesetz vorgesehen.
Damit ist die Wehrpflicht de facto nur im Bezirk des Verwaltungsgerichts Köln ausgesetzt. Zumindest bis Ende des Jahres, wenn das Bundesverwaltungsgericht in nächster Instanz das Kölner Urteil überprüft, könnte sich jeder Wehrpflichtige aus der Region Köln/Bonn auf diesen Richterspruch berufen. Andere könnten sogar rechtzeitig dorthin umziehen. Doch der große Ansturm auf das Gericht ist ausgeblieben. Ganze vier bis fünf Verfahren habe es bisher gegeben, wie ein Gerichtssprecher gestern auf Anfrage mitteilte.
Was ist los? Wollen die jungen Leute plötzlich alle zum Bund? Die Bremer KDV-Zentralstelle, eine Lobbyorganisation für Kriegsdienstverweigerer, hat eine einleuchtendere Erklärung. „Um Ärger zu vermeiden, erhält derzeit niemand einen Einberufungsbescheid, der es nicht will und rechtzeitig protestiert“, vermutet Geschäftsführer Peter Tobiassen. Diese großzügige Praxis der Kreiswehrersatzämter, die Tobiassen im ganzen Bundesgebiet beobachtet hat, sei möglich, weil ja ohnehin nur ein Bruchteil der wehrfähigen Männer einberufen werden müsse. Nach wie vor aber, und daran lässt Tobiassen keinen Zweifel, fordert die Zentralstelle die Abschaffung der Wehrpflicht für alle. (Az.: 2 BvR 821/04)
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