: Auf Abwegen
Urbane Trampelpfade folgen den Naturgesetzen der Zielstrebigen. Noch widersetzen sie sich jeder städteplanerischen Maßnahme – doch das könnte sich ändern
TEXT UND FOTOS INGE LUTTERMANN
Trampelpfade unterscheiden sich abhängig von der Dauer ihrer Benutzung. So lassen sich schmale, wenig ausgetretene Pfade antreffen oder andere, die sich mit der Zeit zu stattlichen Promenierwegen mauserten. Von Jahr zu Jahr wurden sie immer breiter, immer selbstverständlicher, nicht mehr wegzudenken, bis zu dem Punkt, an dem auch der hartnäckigste gärtnerische Rückführungsversuch als gescheitert betrachtet werden muss.
Auch Radfahrer nutzen alternative Fahrwege, um beispielsweise den Tücken der Radwege zu entkommen. Manche Baumwurzeln produzieren derartige Verwerfungen und Spalten im Asphalt, dass neben dem ursprünglichen Weg eine Parallelspur entsteht, die eine schnellere und sichere Fahrt erlaubt.
Im Gegensatz zu den öffentlichen Straßen sind Trampelpfade namenlos. Nur selten sieht man ihre Nutzer in Aktion. Sichtbar sind nur die Spuren, die sie bei ihrer fußgängerischen Abweichung hinterlassen. Walter Benjamin beschreibt den Flaneur in Paris als einen Gänger ohne Ziel, als ein gehendes Wesen mit Zeit und Muße. Wer die abwegigen Pfade geht, vertritt das gegenteilige Prinzip. Er möchte schnell und effektiv, ohne Zeitverluste zum Ziel kommen.
In der Nähe einer Bushaltestelle befinden sich drei Parallelwege, durch das Gebüsch getreten, um eine stark befahrene Straße abgekürzt schneller überqueren zu können. Ein Ausdruck versammelter Ungeduld, des potenzierten Zeitdrucks oder auch der Zeitnot? Die Verkehrsplanung sieht an dieser unter Druck stehenden Stelle keinen Fußgängerüberweg vor. Es entstehen mehrere „wilde“ Übergänge nebeneinander, eine Passage, gestaltet von besonders Gehetzten, denen ein Nacheinandertreten zu viel Zeitverlust bedeutet. Wahrscheinlich geht es in diesem Fall um einen Ort, an dem sich Menschen und Zeitdruck verdichten und direkte Lösungswege gefordert sind. Häufig sind diese neuen Zuwege an Stellen zu finden, an denen in kurzer Zeit viele gleichzeitig zum gleichen Ziel kommen müssen, so in der Nähe von großen Institutionen und Verkehrsknotenpunkten.
Trampelpfade sind ein Zugeständnis an den alltäglichen Trott der Gehenden, der zu Fuß Gehetzten, der Eilenden, stets auf der Suche nach dem kürzesten Weg, nach der einfachsten Passage, nach der direktesten Verbindung von A nach B, ohne Rücksicht auf gestalterische oder bürokratische Abwege und Umwegemanöver.
Gekürzt, abgekürzt wird, was zu kürzen möglich ist. Schmaler oder breiter geht es durch Buschwerk oder Rabatten, über Rasenflächen. Zwischendurch wird noch ein kleiner Zaun genommen, eine Palisadenabtrennung überwunden oder auch ein Metallabsperrbügel, wenn nötig, eine Mauer erklommen, wenn dadurch der sonst verpasste Bus oder die U-Bahn noch erwischt wird. Bis zu dem waghalsigen Überqueren mehrspuriger Straßen, die auf dem Mittelstreifen durch ein Metallgitter getrennt sind. Beim Überwinden desselben wird sportlicher Einsatz und Körpergeschicklichkeit verlangt. Es gilt das Diktat des kürzesten Weges, der nicht verschwendeten Wegstrecke.
Unwichtig, welche Hindernisqualität den zielstrebigen Läufer herausfordert, umso erstaunlicher sind die zu beobachtenden turnerischen Ambitionen, die das Ganze als eine Form in den Alltag integrierter Großstadtgymnastik erscheinen lassen, ein Fitnessprogramm, einfach so nebenbei, das sich stadtplanerisch noch ausbauen und nutzen ließe.
Trampelpfade als Fitnessparcours, eine mögliche in die Zukunft weisende Maßnahme, die die alten, in Freizeitparks angelegten, Trimmpfade ablösen könnten und einem alltagsbezogenen Konzept den Vorzug gäben. Vorstellbar wäre zur Beschleunigung der Passage vor trennenden Absperrgittern die Installation von geeigneten Sprungbrettern, die ein müheloses, weites und schnelles Überspringen ermöglichen, so genannte Känguru-Übergänge.
Für Fußweghindernisse in höherer Ausführung wären entsprechende Kletterhilfen angebracht, die, mit einer Rutsche kombiniert, das durchschnittliche Fortbewegungstempo erhöhen könnten. Diese Überwege müssten in Anlehnung an die „Wildwechsel“-Schilder mit „Fußgängerwechsel“ gekennzeichnet werden. Vorteilhaft wäre auch die Klassifizierung der Pfade nach Schwierigkeitsgraden. Denkbar wäre im Rahmen eines Präventionskonzepts eine Kopplung der Wegenutzung mit einem differenzierten Krankenkassenbonussystem, was der derzeit angestrebten Kostensenkung im Gesundheitswesen entgegenkäme.
INGE LUTTERMANN, geboren 1952, lebt als freie Künstlerin in Hamburg und beschäftigt sich mit Kommunikationsstrukturen im Alltag