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Archiv-Artikel

Gericht mit sieben Köstlichkeiten

Nuanciert meditiert eine Holzflöte: Qu Xiao-songs Oper „Versuchung“ exponiert im HAU 1 mit wenigen Strichen eine beeindruckende musikalische Farbpalette. Nur dass die Szenen zwar brav ausgestellt, aber nicht entfaltet werden

Wie komponiert man eigentlich einen Cliffhanger? Man taucht die Streicher in eine neblig wirbelnde Wolke und setzt Bläser und Schlagzeug mit steil auffahrenden, dissonanten Akkorden darüber. Nachlesen lässt sich das im Lehrbuch für musikalische Effekte, auf Seite 27. Der chinesische Komponist Qu Xiao-song hat dieses Buch genau studiert. Er findet deshalb für jede Szene den rechten Ton, unterlegt den Gang in die Unterwelt mit gewichtig wabernden chinesischen Becken und illustriert Trauer mit einer einsam meditierenden Holzflöte. Bewundern lässt sich das in seiner jüngsten Oper „Versuchung“, die, nachdem sie erst vergangene Woche in München uraufgeführt wurde, jetzt am HAU 1 zu sehen ist.

Zunächst ist man auch recht beeindruckt von der Farbpalette, die Xiao-song mit wenigen Strichen exponiert. Vor allem den vier chinesischen Solisten, einer Flöte, einem Hackbrett, einer Laute und einer Mundorgel, gelingt es, mit verlesenen, sorgfältig platzierten Tönen die Dramatik einer Situation einzurahmen und zusammenzufassen. Überhaupt gestaltet sich die Melange aus chinesischer Oper und europäischer Avantgarde meist zum Vorteil der Szene. Der ungebügelte, dem chinesischen Sprachduktus angepasste Gesangsstil legt sich wie selbstverständlich auf die mit Samt bespannten, aber eben atonalen Figuren des Ensembles.

Früher hatte man die Pekingoper „tonalisiert“, um sie in den Westen zu exportieren. Heute wird sie behutsam „avantgardiert“. Und so staunt man während der ersten Szenen über die gediegene Fülle dieses musikalischen Bilderbogens, das von der Ausstattung (Etienne Pluss) noch untermalt wird: spukige Totenmasken, leuchtende Schminken und besonders opulente Kostüme mit orangefarbenen Fellkugeln im Kopfschmuck.

Nun wird es Xiao-song aber bald zum Verhängnis, dass er sich mit bloßer Staffage nicht zufrieden geben will, sondern auch eine Geschichte erzählen zu müssen meint: eine alte chinesische Legende über Liebe, Treue und den Tod. Zum Träger einer dramatischen Handlung will diese Musik sich aber nicht recht eignen, eben weil sie Momente zwar hervorhebt und stilisiert, aber leider nie eine wie auch immer geartete Entwicklung durchläuft. Und so geschieht etwas, das man aus der Oper eigentlich nicht kennt: Es wird langweilig. Minuten über Minuten dehnen sich Szenen, in denen ein „Ich bin traurig“ brav ausgestellt, aber eben nicht entfaltet wird. Natürlich hilft es nicht, dass die Regie (Sabrina Hölzer) die Figuren im Schneckentempo durch das Bild laufen und die Bühne als Punkte abstecken lässt. Aber der eigentliche Vorwurf gilt schon dem Komponisten, dem keine dramatische Szene, aber eben auch kein wirklich kontemplativer Moment gelingen will.

Immerhin lassen sich, bis das Stück in traumähnlicher Verwirrung zu Ende geht, noch die Stimmen des Ensembles bewundern: das helle Wimmern der Wu Bi-xia, das dunkle Grübeln des Gong Dong-jian und die blecherne Verführung des Shi Xiao-mei. Es gehört zu den Vorzügen des chinesischen Opernstils, dass, anders als in der europäischen Tradition, Kraft und Expressivität nicht mit Geschrei verwechselt, sondern dass Ausdrucksnuancen zwischen Sprache und Musik, zwischen einem natürlichem und kunstvollem Ton gesucht und gefunden werden.

BJÖRN GOTTSTEIN

Weitere Aufführungen: heute und morgen, 20 Uhr, HAU 1, Stresemannstraße 29, Kreuzberg