: Management statt Mitmenschlichkeit
Psychisch Kranke, Behinderte oder Drogenabhängige sollen künftig schlechter betreut werden, weil die Bundesländer sparen müssen. Außerdem soll das Betreuungsrecht automatisch auf Angehörige übergehen – die Grünen halten das für bedenklich
AUS BERLIN ULRIKE WINKELMANN
Den knapp über 60-jährigen Obdachlosen Robert Graf* hatte Anja Mordhorst von der Parkbank aufgelesen. Weil der ehemalige Bäckermeister krank und nicht mehr bei Sinnen war, setzte das Gericht Mordhorst sie als Betreuerin ein. Sie organisierte für ihn zunächst eine Unterkunft im Obdachlosenasyl. Später verschaffte sie ihm eine Wohnung, sorgte für seine medizinische Behandlung und beantragte Sozialhilfe. Dafür brauchte die Hamburger Rechtsanwältin 17 Stunden in zehn Tagen.
Solch ein Fall, sagt Mordhorst, „ist in dreieinhalb Stunden pro Monat nicht zu bewältigen“. Genau diese Zeit aber sieht das neue Betreuungsrecht, das die rot-grüne Koalition verabschieden will, künftig maximal vor. Professionelle Betreuer sollen nur noch 3,5 Stunden pro Fall und Monat vergütet bekommen. Die voraussichtliche Folge: Die Berufsbetreuer werden sich „nicht mehr um die schweren Fälle kümmern“, schätzt Mordhorst. „Die landen dann wieder bei den Behörden und werden dort bloß noch verwaltet.“
Im Moment steht in Deutschland über einer Million erwachsenen Menschen – meist psychisch Kranke oder geistig Behinderte – ein Betreuer zur Seite. Er versucht, den Willen der Betroffenen zu ermitteln, um für sie Konten zu verwalten, mit Ärzten zu sprechen oder Rente zu beantragen. Diese „rechtliche Betreuung“ wird meist von Angehörigen erledigt, die so gut wie ehrenamtlich arbeiten. In jedem fünften Fall aber tritt einer der bundesweit 9.000 Berufsbetreuer – meistens Anwälte oder Sozialpädagogen – auf den Plan. Ihr Geschäft wächst. Allein das Bundesland Nordrhein-Westfalen gab im vergangenen Jahr 118 Millionen Euro für rechtliche Betreuung aus; 1992 waren es noch 1,3 Millionen Euro.
Der Bundesrat drängt daher darauf, das Betreuungsrecht zu novellieren. Längst hat sich in den Augen der Länder die rechtliche Betreuung in eine „soziale Betreuung“ verwandelt. Im Klartext: Die Betreuer nehmen sich zu viel Zeit, um den Willen der Betroffenen zu ermitteln. Für die soziale Betreuung aber sind die Kommunen zuständig, sagt ein Sprecher des Justizministeriums NRW. Wenn die „schweren Fälle“ von diesen künftig weniger aufwendig bearbeitet werden, „ist das im Sinne des Gesetzgebers“. Bei der rechtlichen Betreuung gehe es um „Management, nicht um Mitmenschlichkeit“.
Doch nicht nur mit der Fallpauschalierung – 3,5 Stunden für Menschen, die zu Hause leben, 2 Stunden für Heimbewohner – soll die Betreuung verschlankt werden. Nahe Angehörige sollen künftig automatisch die Betreuung übernehmen können. Über das Ausmaß wird dann in der Regel ein Arzt entscheiden. Die Bundesländer argumentieren, Angehörige würden nicht einsehen, dass erst ein Gericht bemüht werden soll, um sie in eine Funktion einzusetzen, die sie „natürlicherweise“ schon vorher übernommen haben. Hier jedoch hat nicht nur Bundesjustizministerin Brigitte Zypries, sondern auch der grüne Sozialexperte Markus Kurth Bedenken angemeldet. „Die Bestellung einer Betreuung ist immerhin ein schwerer Grundrechtseingriff“, sagt Kurth. Es müsse einem Richter vorbehalten sein, diesen zu verfügen. Einigkeit besteht dagegen darin, dass die Vorsorgevollmacht ausgebaut werden soll. In ihr kann jeder schriftlich fixieren, wer für ihn bestimmen soll, falls er seinen Willen nicht mehr frei artikulieren kann. Der Rechtsausschuss des Bundestags diskutiert am Mittwoch über das Betreuungsrecht. Das Gesetz soll Sommer 2004 verabschiedet werden und 2005 in Kraft treten.
* Name von der Red. geändert